Der historische Woyzeck

Viele Woyzeck-Interpretationen stützen sich auf den historischen Fall, den 1824 in Leipzig wegen Mordes hingerichteten Johann Christian Woyzeck, einen heruntergekommenen arbeitslosen ehemaligen Sodaten, der in völliger Perspektivlosigkeit eine Witwe umgebracht hatte, die sich geweigert hatte, ihn zu unterstützen bzw. eine Beziehung fortzuführen. Daneben gibt es andere zeitgenössische Mordfälle, die Büchner als Quelle dienten. Frühere Interpretationen gingen sogar so weit, das Dramenfragment als Kommentar, quasi  poetische Revision der beiden Prozesse zu betrachten, als Plädoyer gegen die Todesstrafe an einem womöglich psychisch Kranken, denn der historische Woyzeck hatte angegeben, Stimmen gehört zu haben und dabei auch die 'Freimaurer' erwähnt. 

Letztendlich beruht dieser Interpretationsansatz darauf, dass man nicht weiß, was man mit dem Woyzeck-Fragment anfangen soll, d.h. hermeneutisch vor einem Rätsel steht und dann, als man die alten Woyzeck-Akten entdeckt hatte, sozusagen aufatmetet und dachte, man hätte des Rätsels Lösung. Davon abgesehen, dass kein Autor, der sich mit Shakespeare vergleicht - und das tat Georg Büchner - bei dem Versuch, ein unsterbliches Werk zu schaffen, das so verfasst, dass man es nur unter Zuhilfenahme zu Lebzeiten bereits im Bücherregal des Vaters verstaubter Akten versteht (dagegen steht der ästhetische Autonomiegedanke) passt dieser Ansatz auch ganz und gar nicht zu einem Drama, dass den vermeintlich zu rehabilitierenden Woyzeck durch einen auf der Bühne ausführlich abgehandelten vorsätzlichen Totschlag belastet. Hätte Büchner wirklich eine Rehaliltation Woyzecks im Sinn gehabt, hätte er das Stück anders schreiben müssen. Nun kann man mit dem Argument kommen, dass das Drama ja ein Fragment darstellt und der Autor den Prozess noch behandelt hätte. Aber das ist ausgeschlossen. Als der erste Handschriftenentwurf in die Nähe eines möglichen Prozesses kam, hat Büchner den Entwurf abgebrochen und den zweiten Handschriftenentwurf mit einer neuen Exposition von vorne angefangen. 

Es gibt noch einen Grund, warum Büchner den Namen der historischen Figur verwendet - wobei zu beachten ist, dass die ersten Handschrift das weibliche Opfer 'Woyzeck' nennt, während die männliche Hauptfigur nur 'Louis' heißt. Georg Büchner könnte eigene oder ihm nahe Vorgänge und Emotionen hinter dem historischen Fall unsichtbar machen und sich gleichzeitig emotional austoben. Es gibt sogar ein Indiz für diese bislang nocht bedachte Möglichkeit. In dem Revolutionsdrama >Dantons Tod< nennt Dantons Fra ihren Mann >lieber Georg<, während der historische Danton Georges hieß. Büchner hat dessen fiktiver Frau seinen eigenen Vornamen in den Mund gelegt. 

Wenn man also zur Interpretation andere Texte hinzuzieht, sollten das in erster Linie mögliche ästhetische Vorlagen betreffen: Shakespeares Hamlet, Goethes Werther und Faust, vielleicht auch Sophokles' König Ödipus, den Büchner im Revolutionsdrama zitiert. 

Mehr Information in meinem Buch: Georg Büchner: Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen (Wien, 2012).

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0