Unmittelbar nach Maries Ausruf: "Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz. Fort! Das brüht sich in der Sonne!" folgt eine Figurenrede des Narren mit dem Satz: "Blutwurst sagt: komm Leberwurst." Dem voraus geht seine Ankündigung: "Morgen hol ich der Frau Königin ihr Kind."
Genau das ereignet sich in der Szene "Der Idiot. Das Kind. Woyzeck". Der Idiot Karl läuft mit dem Kind weg. Offensichtlich spielt diese Szene, wie auch in vielen Lese- und Bühnenfassungen, nach der HInrichtung der Mutter, in der Narrensprache, der Königin. Wenn der Narr nun von Blutwurst und Leberwurst spricht, dann antizipiert er die Szene, in der Woyzeck sich vergeblich um das Kind bemüht. Die Aufschlüsselung der Märchensprache des Narren muss also lauten: Blutwurst = Woyzeck, Leberwurst = Kind Christian.
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Der Narr (Samstag, 14 Oktober 2023 17:26)
Diese Interpretation erscheint mir hinsichtlich des Märchens "Die wunderliche Gasterei", aus dem die Figuren Blutwurst und Leberwurst entstammen, nicht ganz schlüssig. Leberwurst nämlich, der Blutwurst zuvor für einen Freund hielt, wird von diesem zu sich eingeladen und wird von Blutwurst in Sicherheit gewogen, obwohl er bei diesem Zuhause einige schockierende Dinge erblickt. Zum Schluss erfährt man, dass Blutwurst tatsächlich intendierte, Leberwurst zu erstechen. Aufgrund dessen erscheint mir der Interpretationsansatz Blutwurst=Woyzeck und Leberwurst=Marie sinnvoller, auch da das Zitat fällt, während Marie anwesend sind. Genauso wie im Märchen vertraut Marie Woyzeck und kommt mit ihm in Szene 18 mit, nachdem er sie darum bittet- so ist also "Blutwurst (Woyzeck) sagt, komm Leberwurst (Marie)." zu verstehen. Paralell zum Märchen sind die verstörenden Dinge, die bei Blutwurst Zuhause zu erblicken sind, hier als Metapher für Woyzecks Wahnsinn zu verstehen. Schließlich intendieren sowohl Blutwurst als auch Woyzeck mit ihren Lockungen, einen Mord zu vollbringen.
Christian Milz (Samstag, 14 Oktober 2023 17:49)
Danke für den Kommentar, ist sicherlich eine gut begründete Interpretation, die freilich die Hauptsache, Woyzeck = BLutwurst und damit die Antizipation und die Sinnhaftigkeit der Figurenrede des Narren und alles, was m. E. daran hängt, bestätigt. Gleichwohl ist die Frage, ob man sich so stark auf intertextuelle Prätexte (das spezielle Märchen) stützen sollte (also die Identifizierung von "komm" und Mord), denn wie gesagt ereignet sich dieses Buhlen Woyzecks um das Kind im Beisein des Narren, hier besteht also eine direkte Verbindung übrigens einschließlich der Antizipation des Narren, sich später das Kind zu holen. Mann könnte im Zweifelsfalle sogar beide Interpretationen nebeneinander stehen lassen. Die Hauptsache scheint mir zu sein, dass die Metapher ("Stich") durch die Antizipation des Narren (morgen) als rhetorisch kunstvolle Anspielung auf den physischen Stich (auch auf den Messerkauf zuvor) verstanden wird und Woyzecks Wahnsinn damit eine logische innere Begründung erfährt.