Fragment

 

Georg Büchners Woyzeck-Drama war bei dem frühen Tod des Autors 1837 unvollendet, es ist nur als Fragment in vier Handschriftenentwürfen überliefert. Im ersten Handschriftenentwurf fehlen die Nebenfiguren Hauptmann und Woyzeck, auch der Tambourmajor spielt noch nicht mit, erst recht hat er keine Szene zusammen mit der weiblichen Hauptfigur und diese noch kein eigens Kind, obwohl Kinder auf der Bühne zu sehen sind. Gleichwohl enthält diese Ursprungsfassung, man spricht auch von einem work in progress und Entwurfsstufen, sowohl die Stimme aus dem Boden mit dem Mordauftrag und den kompletten Mordkomplex. Meist wird der Woyzeck (auch der Titel stammt nicht von Büchner) als Lese- oder Bühnenfassung, also in Form einer nachträglichen Bearbeitung rezipiert und die um besagte Nebenfiguren erweiterte Handlung der sogenannten Hauptfassung mit dem Mordkomplex des ersten Handschriftenentwurfs zusammengefügt.

Die Büchner-Forschung ist sich keineswegs einig, inwieweit das Dramenfragment als vollendet oder unvollendet zu gelten hat, die Meinungen gehen hier weit auseinander, auch wenn man sich im Hinblick auf den Interpretationsansatz des Sozialdramas weitgehend einig ist: Im Irrtum vereint.

Allen Handschriftenentwürfen gemeinsam ist, dass die weibliche Hauptfigur in der Figurenkonstellation keinen Familiennamen führt, dieser wird nur durch die Stimme aus dem Boden ausgesprochen. Und zwar zunächst als 'Woyzecke', später als 'Zickwolfin'. In der ersten Entwurfsstufe fehlt desgleichen der Nachname des Protagonisten, er heißt nur 'Louis', sein Opfer 'Margreth' in Anspielung auf Goethes Gretchen im Faust. Diese Leerstellen sind hermeneutisch von Bedeutung, werden aber durch die Lese- und Bühnenrfassungen ausgemerzt. 

Im Hinblick auf die verdeckte Handlung gibt es in der Konzeption des work in progress keine Entwicklung bzw. Unterschiede. Eine Entwicklung zeigen indes die beiden Hauptfiguren in ihrer Innerlichkeit, wobei die Margreth der ersten Entwurfsstufe merkwürdigerweise erst in dem Mordkomplex so richtig präsent wird. Woyzeck und Marie offenbaren in der Hauptfassung eine durchaus sensibles, wenngleich resignatives Innenleben, so dass ernsthafte Stimmen davon sprechen, dass man den groben Mordkomplex des ersten Handschriftenentwurfs nicht an die Hauptfassung anhängen dürfe; allerdings kennen diese Statements nicht den Kern der Handlung.  Gleichwohl haben sie im Hinblick auf die genannten Feinheiten recht, eine adäquate Aufführung, die das alles berücksichtigen wollte, müsste die vier Handschriftenentwürfe nacheinander auf die Bühne bringen, so wie sie erhalten geblieben sind. 

Mehr dazu in: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen, Wien 2012.

 

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