sexueller Missbrauch
Wenn Louis, in den nachträglichen Bearbeitungen Woyzeck, bei seinem Opfer (ursprünglich Margret) nach dessen Hinrichtung eine rote Schnur um den Hals wahrnimmt, dann handelt es sich hier um eine Anspielung auf Goethes Margret, über deren Vision Faust sagt:
"Welch eine Wonne! welch ein Leiden!
Ich kann von diesem Blick nicht scheiden.
Wie sonderbar muß diesen schönen Hals
Ein einzig rotes Schnürchen schmücken,
Nicht breiter als ein Messerrücken!"
Goethes Gretchen wird als Kindesmörderin enthauptet. Büchners Margreth wird nach der Erzählung der Märchenparabel von Louis zur Hinrichtung abgeführt. Das Großmuttermärchen enthält die Anklage, eine Parabel die mit den aufgespießten kleinen goldenen Mücken und dem umgestürzten, d.h. ausgelaufenen Nachttopf (Körperflüssigkeit) Verführung und sexuellen Missbrauch codiert. Der Mordkomplex beginnt mit einem Reinigungsritual in Bezug auf die anwesende Margreth, der Code 'König Herodes' benennt wiederum Kindstötung. Zudem sind in der ganzen Szenenfolge Kinder anwesend. In den späteren Handschriftentwürfen wird aus der weiblichen Hauptfigur eine Mutter, die ihre sexuellen Bedürfnisse im Beisein des Kindes artikuliert und als Höhepunkt und im Zusammenhang von omnipräsentem Tötungsauftrag durch Erstechen und Messerkauf den fatalen Satz ausruft: "Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz." Durchgängig wird im Dramenfragment auf Sodomie im zeitgenössischen Sinn angespielt, sowohl in den Budenszenen und durch die Pädophilie der beiden Nebenfiguren Hauptmann und Doktor; vor allem aber durch die auf die Zerstörung von Sodom verweisenden Bibelzitate. Dieser Hintergrund einer Verstrickung bis hinein in die Mutter-Sohn Beziehung liefert den Grund für den letztendlich misslingenden Gebetsversuch Maries. Vor allem die Formanalyse des Woyzeck-Fragments mit der erklärungsbedürftigen exzessiv ausgestalteten rituellen Hinrichtung des weiblichen Opfers zwingt zu der Interpretation, dass Georg Büchner in seinem Drama schwerste Tabubrüche abhandelt, die gleichwohl heute wie damals zur alltäglichen Erfahrung vieler Kinder und Erwachsener gehören.
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