Ursprünglich, im ersten Handschriftenentwurf, lässt Georg Büchner sein Woyzeck-Drama mit den beiden Jahrmarktszenen einsetzen; der Autor führt sein Publikum von außen vor der Jahrmarktsbude nach innen. Die Idee dahinter ist eine doppelte: Zum einen hilft er sich damit über die Schwierigkeit hinweg, noch über keine eigentliche Dramenexposition zu verfügen, wie sie dann im zweiten und vierten Handschriftenentwurf Gestalt annimmt, zweitens hilft ihm das Spiel im Spiel mehr oder weniger unauffällig in die Mehrdeutigkeit der verdeckten Rede hineinzukommen, d.h. eine ironische Diskrepanz von Bild und Wort zu installieren. Die Anrede „meine Herrn“ der Martschreiers sowohl außen als auch innen, trotz Anwesenheit des weiblichen Publikums in Person der weiblichen Hauptfigur (hier noch) Margreth, stellt einen Fauxpas dar, der uns verrät, dass der Autor die (zeitgenössisch ausschließlich männlichen) Teilnehmer an einer Universitätsvorlesung vor sich sieht und anspricht und mit dem Marktschreier die Professorenschaft persifliert. Diese Feststellung ist hermeneutisch von eminenter Bedeutung, denn die Interpretation muss sich infolgedessen darauf einstellen, mit ausdrücklichen Seitenhieben auf das akademische Milieu und dessen anspruchsvollen intellektuellen Kommunikationsmodus konfrontiert zu werden, sprich allegorische Codes, Metaphern und eine Symbolflut ohne Ende vorzufinden. Hätte die Woyzeck-Rezeption das beachtet, wäre sie nicht auf mehrfach verzweigten Holzwege gelangt. Ins Auge springt dabei Georg Büchners kaum zu überbietender aggressiver Sarkasmus, der bis in die höchsten Kreise zielt: gekrönte Häupter lieben kleine Schurken, sogenannte Kanaillevögele. Auch das ist Sprachkunst. D.h. bereits hier setzt die metaphorische Verklammerung mit der Vermischung von Tier und Mensch, Animalität und Vernunft, Natur und ‚Kunst‘ und insbesondere von groß und klein ein.
In der Bude wiederholt sich der Lapsus des „meine Herren“, der erst in dem zweiten Handschriftenentwurf korrigiert wird. Auch hier wieder geradezu penetrant redundant die Vermischung von Animalität und Vernunft, nun gezielt auf die Professorenschaft gemünzt. Im Hinblick auf die Form und als Teil der Bildkettenstruktur begegnet dem Publikum nun auch gleich das Urinieren – des Pferdes, Professors?, das sich mit dem seitens des Doktors breit ausgestellten Lamento über Woyzecks vertragswidrige Körperausscheidung und das Stelldichein der Handwerksburschen auf der Toilette des Wirtshauses später fortsetzt, nicht zu vergessen der ausgeschüttete Nachttopf (Hafen) in der Märchenparabel der Großmutter.
Wenngleich die ursprüngliche Dramenexposition sofort in das Thema Sodomie – im zeitgenössischen Wortsinn – einsteigt, hat sie dramaturgisch doch noch große Schwächen, denn die beiden Hauptfiguren spielen als passives Publikum nur ganz am Rand mit, der Soldat führt noch nicht einmal seinen späteren Namen ‚Louis‘. Wir haben es daher mit einer noch zu abstrakten Anfangsszene zu tun, deswegen wird selbige später etwas nach hinten versetzt und die Hauptfiguren durch eine neue Szenenfolge „Freies Feld. Die Stadt in der Ferne“ eingeführt. Diese enorm verdichtete Dramenexposition, in der Hauptfassung noch einmal gestrafft, kann Georg Büchner indes erst schreiben, nachdem er sich durch das Verfassen des Mordkomplexes sozusagen in Stimmung gebracht hat. Das lässt sich anhand der Handschriftenentwürfe nachverfolgen.
Tabellarische Analyse der ursprünglichen Dramenexposition (Link zu academia.edu)
Mehr dazu in: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen. Wien, 2012.
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