Animal Reading im >Woyzeck<: Roland Borgards‘ Kommentar) zu Büchners Handschrift H3,1        (in DVjs 2/2020) geht in die Falle des Quellenfetischismus.

Animal Reading im >Woyzeck<: Roland Borgards‘ Kommentar) zu Büchners Handschrift H3,1        (in DVjs 2/2020) geht in die Falle des Quellenfetischismus.[1]

„Tiere erlauben einen ertragreichen Zugriff auf Büchners literarisches Werk“, hält Borgards in der Zusammenfassung fest (39), es geht um die Hühnerlaus, die der Doctor in der Hofszene zunächst in einer Katze, dann in den Pelzkrägen der anwesenden Studenten entdeckt. Animal Reading ist das von Borgards verwendete Etikett, das Tieren nicht nur eine „spezifische Aufmerksamkeit“ zumisst (40), sondern ausführlich und detailliert wissensgeschichtliche Kontextualisierung betreibt (40). Freilich mit dem Ergebnis, dass mit der Ausführlichkeit und Detailliertheit die Rätselhaftigkeit der Büchnerschen Hühnelaus nicht etwa gemindert, sondern verstärkt wird (68). Borgards Fazit: „Büchners literarische Hühnerlaus ist ein wundersames Tier“ (68).

Der seitens der DVjs als veröffentlichungswürdig erachtete Artikel extrahiert aus der Hinzuziehung der zeitgenössischen Parasitologie vier Rätsel: Wieso bezeichnet der Doctor die Hühnerlaus als eine >neue Species>, obwohl selbige alles andere als neu gewesen sei, zweitens sei Büchners lateinischer Terminus >Ricinus< nicht korrekt, drittens fände der Doctor die Hühnerlaus auf einer Katze, biologisch ein Unding, noch mehr gelte das für seinen Hinweis auf die Pelzkrägen der Studenten.

Die vier scheiternden (sorgsam als „Linné-, De-Geer-, Nitzsch- und Burmeister-Rätsel klassifizierten) Versuche auktorialen Unstimmigkeiten zu erklären, führen schließlich immerhin zu einer Verschiebung der Problemlage, die einerseits die Kontinuität von Naturwissenschaften in den Blick rücken soll, andererseits Büchners Wissenschaftssatire und seine Tierästhetik des Grotesken vermerkt (68).

Die letzten beiden Punkte sind die hermeneutisch  interessanten: das Groteske führt zu dem roten Faden, der sich durch das Woyzeck-Fragment zieht, seitens der Literaturwissenschaft und des Kulturbetriebes aber nicht abgewickelt wird.

Was man Borgards wissenschaftlich ankreiden muss, ist, das Animal Reading als Methode nicht konsequent, gründlich und hermeneutisch angemessen umgesetzt zu haben. Insbesondere in Bezug auf das Woyzeck-Fragment erlauben Tiere zweifellos einen „ertragreichen Zugriff“, wenn man tatsächlich zugreift und sich nicht nur ein Tier herauspickt und das zudem noch wissenschaftsgeschichtlich kontextualisiert anstatt zunächst primär immanent, d.h. literaturbezogen zu untersuchen.

Bevor in der besagten Szene die Hühnerlaus angesprochen wird, wirft der Professor während einer Vorlesung eine Katze aus dem Fenster, Woyzeck muss sie auffangen. Der Professor assoziiert die Katze mit Woyzecks Großmutter. Gegen Ende der Szene bezeichnet der Doctor seinen Probanden Woyzeck als „Bestie“, er soll die Ohren bewegen wie eine Katze, es folgt ein Vergleich mit einem Esel und schließlich ist die Rede von weiblicher Erziehung, der Muttersprache und dem Haare-Ausreißen aus Zärtlichkeit, eine Anspielung auf den Nackenbiss mancher Tierarten beim Geschlechtsakt. Der Tambourmajor bezeichnet Marie beim tête à tête als „wildes Tier“ und – im Hinblick auf Animal Reading im Woyzeck die smoking gun: In Woyzecks Kopf formt sich der Name des zu erstechenden Opfers als Zickwolfin, eine Paarung aus Zicklein und Wölfin. Die Liste des Animal Reading des Dramanfragments ist keineswegs vollständig, erwähnt seien an dieser Stelle nur noch die Hasen der Eingangsszene.[2] Wenn Borgards nun festhält: „Das Verfahren ist deutlich: von der Katze über die Laus zum Mensch“ (64), dann erfasst er trotz eines Minimums  einbezogener  Daten immerhin das Wesentliche. Genauer gesagt, Borgards fasst das zusammen, was er selbstverständlich kennt, aber in seinem Artikel außen vor lässt – ohne übrigens auch nur ein Wort darüber zu verlieren, welche Überlegung dieser Datenauswahl zugrunde liegt und geschweige denn, selbige zu legitimieren. Ich habe das in meinem 2012 im Passagen Verlag erschienenen Buch Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen ausführlich untersucht und werde hier nicht weiter darauf eingehen. Nur so viel: Die groteske Vermischung von Animalischem und Menschlichem in Verbindung mit der im Woyzeck-Fragment allgegenwärtigen offenen und verdeckten Thematisierung der Sexualität (übrigens auch in der Hofszene) ist als Sodomie zu klassifizieren, wozu im zeitgenössischen Verständnis sowohl die Homosexualität als insbesondere auch die Pädophilie zu verstehen ist, die im Woyzeck-Fragment durchgängig durch die Kombination von groß und klein in Verbindung mit der Kombination von Tier und Mensch chiffriert wird. Ein Verfahren, dass sich bei der rätselhaften Hühnerlaus (wie auch bei der Zickwolfin)  bestätigt, die insofern im übertragenen Sinne dann auch in den Pelzkrägen der Studenten vermutet werden darf. Wenn man schon extern kontextualisiert, dann primär literarisch: Im Hinblick auf den Schwagerinzest ist es beispielsweise Hamlet, der von einem Zobelpelz tragen spricht (III,2).

Ein adäquates Animal Reading entwirrt den Rätselknoten der Hühnerlaus indes beträchtlich, das, was unklar bleibt, darf dem eigentlichen Fokus Georg Büchners, der woanders als in der wissenschaftlichen Korrektheit liegt, bzw. gewollten, als Allegoriesignale zu verortende Diskrepanzen zugeschrieben werden. Wissenschaftliche Korrektheit sollte indes für die literaturwissenschaftlichen Untersuchung von Texten gelten: Vollständigkeit bzw. Offenlegung und Begründung einer Reduktion der Datenauswahl, die Diskussion von Konsistenz und Kohärenz beschriebener Teilstrukturen im Hinblick auf die Dramaturgie eines zur Veröffentlichung bestimmten Textes, die Legitimierung von Kontextualisierungen im Hinblick auf einen möglicherweise zu unterstellenden Anspruch auf künstlerische Autonomie eines Textes usw. Interpretation darf sich an die Analyse anschließen, als Prämisse einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung sollte sie unzulässig sein

 



[1] Roland Borgards: „Hühnerlaus. Ein Kommentar zu Georg Büchners Woyzeck, H3,1“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2/ 2020, 39-67.

[2] Ergänzend seien noch auf die kleinen Mücken im Woyzeck-Fragment wie auch in Dantons Tod hingewiesen. 

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