Offener Brief an die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz

Metaphorische Verklammerung, strukturale Textanalyse und hermeneutischer Zirkel

OFFENER BRIEF AN DIE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER LITERATUR MAINZ

„Unsichtbar macht sich die Dummheit, indem sie sehr große Ausmaße annimmt.“

Metaphorische Verklammerung, strukturale Textanalyse und der hermeneutischen Zirkel      

 

Link zur Session / Diskussion auf academia.edu

 

Sehr geehrter Herr Präsident Prof. Anderl, sehr geehrte Vizepräsidentinnen Frau Prof. Platt und Frau Dr. Danz,

per Email hatte ich die AKADEMIE darauf aufmerksam gemacht, dass der in Kommission im Franz Steiner Verlag abgedruckte, in der Plenarsitzung vom 20. April 2012 vorgelegte und genehmigte Vortrag über Georg Büchners Woyzeck weder der Pflege der Wissenschaften noch der der Literatur dient, wie es die Satzung Ihrer Forschungs- und Gelehrtengesellschaft gebietet. Die Vizepräsidentinnen antworteten auf meine kurz begründeten wie schwerwiegenden Einwände gegen die Verstöße wider grundlegende Logik, textanalytische Regeln und auf meinen Hinweis, dass der Text zu widersinnigen auch ethisch unzulässigen Schluss-folgerungen gelangt, ersichtlich ‚not amused‘ es handele sich hier nicht um ein Vorhaben der AKADEMIE oder eine Auftragsforschung, sondern um einen wissenschaftlichen Beitrag des Autors, der jeder wissenschaftlichen Diskussion offen stehe. Falls damit eine Distanzierung angedeutet sein sollte, würde das von mir ausdrücklich begrüßt, allerdings wäre es die Aufgabe der AKADEMIE, die den Beitrag ausdrücklich entgegengenommen und genehmigt hat, Kritik zur Kenntnis zu nehmen und  an der Korrektur mitzuwirken beziehungsweise die wissenschaftliche Diskussion mit anzustoßen. Bislang sind dafür keine Anzeichen zu erkennen. Meinen zeitweise scharfen Ton bitte ich freundlichst mit der Verstocktheit Ihrer Institution, ihrem ausweichenden Verhalten und der, wie sich zeigen wird, erbärmlichen Unwissenschaftlichkeit des von Ihnen gutgeheißenen Beitrags zu entschuldigen. 

Eine Literaturwissenschaft, die derzeit, wie akademisch offen eingestanden wird, über keine konsensfähige Theorie der Interpretation verfügt[1], kaschiert ihre Defizite[2] gerne damit, dass sie auf Detailanalysen unter spezifisch akademischen Aspekten ausweicht und verbindlichen Textanalysen aus dem Wege geht. Unter der Hand werden selbstverständlich gleichwohl textanalytische und interpretatorische Grundannahmen getroffen, gegen deren Falsifizierbarkeit man sich durch die derzeit vorherrschende intellektuelle Anarchie im Hinblick auf Interpretation immunisiert.[3] Diskussionen, die zu etwas führen, hätten auf Textanalysen aufzubauen, die man sich erspart. Über das, was gelehrt und publiziert wird, entscheiden in der ‚Literaturwissenschaft‘ akademische Hierarchien und die Redaktionen von Publikationsorganen,  mit einem Wort: Macht.

Die AKADEMIE legt in besagter Schrift eine beispielhaft misslungene Interpretation vor, die mit einfachem textanalytischem Handwerkszeug zu widerlegen ist, dabei aber für die Büchner-Rezeption typische Denkfehler offenlegt. Der Schaden dürfte sich freilich in Grenzen halten, erstens weil der publizierte Nonsens im gängigen Mainstream mitschwimmt, zweitens weil in dem Chaos inflationärer Textproduktion jeder, der in der Hierarchie hoch genug rangiert, nur das liest, was ihm gerade passt und sich seine eigenen Maßstäbe zusammenzimmert. Dass dabei, anders als in den technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, die seitens der AKADEMIE ja auch gepflegt werden, nichts Brauch- und Anwendbares herauskommt, scheint nicht nur kein Problem zu sein, sondern recht eigentlich Sinn der Sache.

Bereits der Titel „Kommunikationslosigkeit und Gewalt“ greift zu einer schlagwortartigen Formel, die so eingängig wirkt, wie sie falsch ist. Sie stellt zwei Begriffe in einen Zusammenhang, der überhaupt nur dann eine Aussage macht, wenn er normativ, also moralisch verstanden wird. Er soll dann nämlich besagen, dass (körperliche) Gewalt (geistige) Kommunikation ersetzt, und damit die vernünftige Bestimmung des Menschen verfehlt wird. Der Titel interpretiert von vorneherein Gewalt als falsche, weil unmoralische Kommunikation. Büchner hätte demnach mit seinem Woyzeck eine Art moralischer Erziehung bezweckt.

Ausgerechnet Büchner. Davon abgesehen unterläuft dem Interpretationsversuch besagten AKADEMIE-Textes ein Kategorienfehler. Er besteht darin, Gewalt in der Bühnenhandlung als Synonym für reale Gewalt zu verstehen. Zwischen den Dimensionen Wirklichkeit und Bühne beziehungsweise Text findet eine ästhetische Transformation statt, eine rituelle Hinrichtung auf der Bühne, die an ein archaisches Menschenopfer anklingt, hat Symbolcharakter.[4] Handlungen bedeuten auch veranschaulichte Gefühle sowie deren analytische Aufschlüsselung. Allein diesen Unterschied zu erkennen, ästhetischen Schein als solchen wahrzunehmen und von der Realität oder, wie Schiller es ausdrückt, von falschem, sich als Wirklichkeit ausgebendem Schein zu unterscheiden, wäre eine Bildungsaufgabe ersten Ranges.

Das Schlagwort „Kommunikationslosigkeit und Gewalt“ stellt keine interpretatorische Schlussfolgerung einer Textanalyse dar, sondern verbaut selbige. Denn selbstverständlich kommuniziert der Mordkomplex auf der Bühne, beziehungsweise ist das seine einzige Funktion. „Kommunikation und Gewalt“ wäre ein angemessenerer Titel. Vorausgesetzt, man versteht, was kommuniziert wird. Übrigens kann nicht nur Gewalt kommunizieren, sondern Kommunikation auch gewalttätig wirken. Weil das so ist, können Interpretationen unter Umständen unangenehm sein. Orwell lässt grüßen. Wollte Georg Büchner mit seiner Flugschrift Der Hessische Landbote nicht recht eigentlich zur Gewalt aufrufen?

Inwieweit sich die Abhandlung der MAINZER AKADEMIE mit der Plattitüde „Kommunikationslosigkeit“ (tatsächlich einer Projektion derjenigen, die bei einem komplexen Text nur Bahnhof verstehen) in ‚guter‘ akademischer Gesellschaft befindet, erweist Tim Webers seitens des FORUMS VORMÄRZ FORSCHUNG herausgegebene  Dissertation „Der ethnographische Blick. Büchners Woyzeck und das Volkslied“[5] aus dem Jahr 1918. Weber bespricht die bereits zuvor andernorts vollständig untersuchten Volkslieder des Dramenfragments[6] und beschreibt eine traditionelle Kommunikationsform, die als verdeckte Rede oder Allegorie seit alters bekannt ist. Die Jagd transportiert als bildgebende Instanz mehr oder weniger unterschwellig sexuelle Inhalte. Für eine an der Universität Mainz als Dissertation angenommenen Untersuchung ausgesprochen merkwürdig ist, dass Weber den Mordkomplex des Woyzeck bei der Untersuchung ausspart, in dem selbstverständlich auch bedeutungstief gesungen wird. Man sollte doch davon ausgehen, dass eine wissenschaftliche Untersuchung eines rätselhaften wie schmalen Werks im Rahmen einer Dissertation  den  Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.  Zudem ist, wenn es um einen ethnographischen Blick geht, unverständlich, warum in den zu analysierenden Korpus die Figurenrede des Narren und der Großmutter, beide im traditionellen Märchenduktus, nicht in die Untersuchung einbezogen werden. Es sind geradezu gewaltige Scheuklappen, die da unter dem Doktorhut hervorragen und die auch dem Gegenstand dieser Untersuchung, dem Text der AKADEMIE eignen: Barrieren, ohne die ein Resümee unmöglich wäre, das man in Form von Parteipropaganda erwarten darf, aber nicht in einem Text mit wissenschaftlichem Anspruch:

„Woyzeck erfährt heute eine beklemmende Aktualität nicht nur in Bezug auf Stellenmangel, Niedriglohn, Mehrfachjobs, Arbeitsverdichtung und fehlende Anerkennung, sondern auch was Ich-Bezogenheit, fehlende Gesprächsbereitschaft und Gewalt betrifft. – Eigenschaften, die in Notlagen hervortreten und alle Schichten erfassen … Büchner rief dazu auf, die durch den Mord in Blut getauchte Dialogunfähigkeit als Mangel wahrzunehmen.“

In einer Fußnote bezieht sich der Autor dabei auf einen Artikel im SPIEGEL vom 20.08.2012 und bekennt damit offen, auf welches Niveau er Büchners Werk einstampft. Mit dessen Dichtung hat das so viel zutun, wie eine unter die Dampfwalze geratene Trompete mit einem Musikinstrument. Literaten, Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern, denen nicht jegliche ethische und ästhetische Orientierung abhandengekommen ist, sollte eigentlich auffallen, dass man in der Tat ästhetisch einiges durch Gewalt kommunizieren darf, unter  Umständen auch in Form von Mord auf der Bühne, dass pure Dialogunfähigkeit aber mit Sicherheit nicht dazugehört.

Die spezifische Form der Kommunikationsform des Dramenfragments wird von dem Literaturwissenschaftler Volker Klotz als metaphorische Verklammerung beschrieben.[7] Ohne sich groß darüber zu wundern, entdeckte Klotz formale Gemeinsamkeiten zwischen Frank Wedekinds  Frühlingserwachen (1891) und Georg Büchners Woyzeck (1837), speziell im Hinblick auf ein Netzwerk von Bildketten, das bei Büchner „in ungleich stärkerem Ausmaß“ als bei Wedekind wirksam werde. Formal bewirkt es die ästhetische Einheit des Dramas, es garantiert, dass relativ selbstständige, fragmentarische Szenen, deren lose Anordnung eine offene Form bilden, untereinander sowie mit dem dramaturgischen Kern des Ganzen kommunizieren, für den sich allerdings weder Klotz noch die Woyzeck-Rezeption insgesamt interessieren. Man registriert allenthalben und in vielfacher und verschiedener Hinsicht (u. a eben der ‚offenen Form‘)  die Modernität des Dramenfragments, begnügt sich aber mit dieser Feststellung, so als ob man vor einem heißen Eisen Angst habe. Volker Klotz vollbringt das Kunststück den einen Satz, in dem ein Term an exponierter Stelle eine plötzliche Umkehr von indirekter und direkter Rede anbietet, zu ignorieren. Er entgeht ihm, weil Klotz die entscheidende Frage nicht stellt: die Frage, warum Büchner so modern ist, warum er die klassische Dramenform sprengt. Immerhin wissen wir dank ihm, womit. Aber Vorsicht. Das Eisen ist tatsächlich sehr heiß. 

Wenn der Veröffentlichung der AKADEMIE etwas zugute zu halten ist, dann das, dass sie die Frage nach der Modernität des Woyzeck stellt. Immerhin. Gleichzeitig kann man aus der Antwort etwas lernen, nämlich wie man es nicht machen darf. Wir treffen dabei auf einen üblichen Kardinalfehler der Woyzeck-Rezeption, den Michael Titzmanns Strukturale Textanalyse aus einem simplen Grund verbietet. Der Bezug auf fremde Texte verändert den Untersuchungsgegenstand. Wenn ich einen Text A mithilfe der Texte B, C und D usw.  untersuche,  dann erhalte ich eine mehr oder weniger zufällige Vermischung aller. A ist Büchners literarischer Text, gegebenenfalls auch der gesamte literarische Werk, B sein Hessischer Landbote, C sind seine wissenschaftlichen usw. Texte, D seine Briefe und seine Biografie, dazu füllt die Büchner-Forschung gleichsam das ganze weitere Alphabet mit zeitgenössischen Sachtexten auf, Prozess- und Gerichtsgutachten des historischen Falles, forensische und medizinische Texte plus der gesamten dazu existierenden Sekundärliteratur.   Damit kann man letztendlich jedes gewünschte Ergebnis produzieren, was keineswegs immer absichtlich passieren  muss. Deswegen lautet die oberste Regel jeder Textanalyse, dass ein Text zunächst rein immanent zu untersuchen ist, was selbstverständlich streng genommen unmöglich ist. Praktisch ist das aber kein Problem, die Hinzuziehung von fremden Prätexten ist zu vermeiden, die von poetischen zu legitimieren. Die Veröffentlichung der AKADEMIE watet gemeinsam mit allen anderen Woyzeck-Rezeptionen mit beiden Beinen im hermeneutischen Sumpf, indem sie bei Georg Büchners wissenschaftlicher Forschung und deren Verschriftlichung ansetzt, sehr beliebt ist aber auch der Hessische Landbote oder sind es die Gutachten des Gerichtspsychiaters Johann Christian A. Clarus in Bezug auf den im Hinblick auf Zurechnungsfähigkeit zu untersuchenden Johann Christian Woyzeck, der im Jahr 1821 eine gewisse Johanna Christiane Woost erstochen hatte, weil sie ihm weitere Unterstützung verweigerte. ‚Johann Christian‘ muss zeitweise in beiden Formen ein gängiger Vorname gewesen sein 😉.

Büchner sei im Zürcher Exil als Privatdozent mit seiner Untersuchung von Nerven der Flussbarben auf dem „Weg zu einer modernen ‚Experimental-Wissenschaft‘ gewesen, argumentiert der von mir angegriffene Text; mit seinem Barbenprojekt habe sich Büchner an der Spitzenforschung beteiligt und damit wir kein anderer Schriftsteller seiner Zeit aktiv die Modernisierung vorangetrieben. „Als moderner Autor bezog er Wahrnehmungsformen des Naturwissenschaftlers wie den Tatsachenblick und das analytische Verfahren in die Schreibweise ein … Ohne die zeitliche Nähe von Poesie und Naturwissenschaft wäre das Woyzeck-Fragment in seiner modernen Form vermutlich nicht zustande gekommen.“

Selbst wenn das so stimmen sollte, müsste der Nachweis geführt werden, inwiefern die beiden Textformen irgendwie parallel laufen. Selbstverständlich tun sie genau das Gegenteil. Die Woyzeck-Rezeption kann sich gar nicht genug über das medizinische Menschenexperiment und den unmenschlichen Doktor echauffieren, der Doktor und der Professor sind lächerliche Popanze, die Vernunft wird von Büchner literarisch durchgängig mit Viehigkeit kontaminiert und gleichsam totgelacht. Büchners Hauptfiguren stellen sich als gespalten bis zur inneren Zerrissenheit dar. Lenz distanziert sich von seiner dichterischen Berufung, Danton von seiner revolutionären Identität, Woyzeck ernährt die Familie, ist rücksichtsvoll und gleichzeitig von einem Tötungsimpuls sondergleichen besessen, Leonce unternimmt einen (halbherzigen) Selbstmordversuch. Allesamt zeigen sie bis zur Ununterscheidbarkeit vergleichbare Ängste. Selbst Marie offenbart bei ihrem Techtelmechtel heftige innere Widersprüche. „Dichter, Revolutionär und Wissenschaftler“ macht sich gut auf dem Plakat. Herrmann Kurzkes Biografie Georg Büchner. Geschichte eines Genies beginnt etwas weitsichtiger mit dem Bild innerer Spaltung:

„Ein berühmter Dichter, steckbrieflich verfolgt [was einen Anachronismus darstellt, zeitgenössisch war Büchner alles andere als ein berühmter Dichter, Anm. C.M.]: Heute hört sich das abenteuerlich, verwegen, romantisch an. Damals war es eine Katastrophe, die das Leben eines hochbegabten jungen Mannes spaltete in ein Davor und Danach, in eine aufsteigende und eine absteigende Hälfte, eine politisch aktive und eine politisch passive, eine ziehende und eine fliehende, eine treibende und eine getriebene Zeit. Ein solcher Steckbrief macht schockartig erwachsen.“

Noch stärker (und realistischer) wird das Bild der Spaltung, wenn man davon ausgeht, dass der Student Georg Büchner sein Exil mehr oder weniger provoziert hat und dass die von vorneherein geplante, durch den Landboten erzwungene Flucht mit schweren Schuldgefühlen einhergeht, insbesondere im Hinblick auf den Mitstreiter und Mitverfasser Friedrich Ludwig Weidig, der fast zeitgleich mit Büchner, aber als kranker und verzweifelter Gefangener stirbt. Kurzkes „steckbriefliche Verfolgung“ als schweres Trauma hinzustellen ist haltlose Phantasie. Büchner will zurück nach Straßburg zu seiner Geliebten und er will das väterliche Studienfach loswerden. Und ungefähr genauso schreibt er es gleich nach dem Grenzübertritt auch in die Heimat.

Wenn wir nach Georg Büchners Dichtung fragen, dann lassen wir den Revolutionär und den Wissenschaftler besser auf sich beruhen. Uns Heutigen haben beide nichts Neues zu erzählen. Der Dichter umso mehr. Zumal das Woyzeck-Fragment, zweifellos sein Hauptwerk, immer noch Rätsel aufgibt, so dass wir uns ihm hier textanalytisch nähern, vor einer Interpretation indes hüten werden. Es werden sich aber Aufschlüsse im Hinblick auf die Modernität des Woyzeck-Dramas ergeben. Ob diese willkommen sind, steht auf einem anderen Blatt.

Das akademisch allgemein akzeptierte Modell der metaphorischen Verklammerung deckt eine Aufhebung von Raum und Zeit auf, die für Kunst und Literatur, insofern sie etwas zu sagen haben, zwar typisch, aber nicht leicht nachvollziehbar und auch nicht leicht nachweisbar ist. Insofern kommt die metaphorische Verklammerung einem Mikroskop gleich, mit dem wir in Bereiche blicken, die uns normalerweise nicht so einfach zugänglich sind. Wenn eine bestimmte Struktur von Metaphern- und Bildketten sich über alle Textteile, selbst separater Handschriftenentwürfe, erstreckt,  dann nimmt jedes dieser Elemente auf mehr oder weniger gleiche Weise am Ganzen teil. Die metaphorische Verklammerung, so Klotz, wird zu

 „einem engverschlungene[s] Bezugssystem, Bindungen […] die als wiederholte und variierte Wortmotive oder Bildketten, gespeist aus einem festumrissenen Bildfeld, sich von Szene zu Szene spannen und einen inneren Konnex bilden. Diese Bildketten, in den jeweiligen Punkten ihres Auftauchens zusammengenommen, ergeben fast alle das Woyzeck Drama noch einmal im kleinen unter einem bestimmten Aspekt […] Die meisten der Bildketten, die an den verschiedenen Orten das Dramas entspringen, münden in die Ermordungsszene ein.“[8]

Das ist ein Paukenschlag, der der Literaturwissenschaft und der bisherigen Büchner-Rezeption gleichsam das Trommelfell zerreißt. Erstens läuft die Handlung des Woyzeck danach von fast jedem Punkt aus auf den Mordkomplex zu. Zweitens handelt es sich dabei nicht nur um eine theoretische Feststellung, sondern die Bilder und Metaphern sprechen in erster Linie das Gefühl an. Die metaphorische Verklammerung ist unmittelbar sinnlich präsent. Man analysiert das, was auch gespürt wird. Die hermeneutische Konsequenz: Das Mordmotiv kann nicht aus äußeren Umständen, Arbeitshetze, materieller Armut, Unterdrückung und so weiter abgeleitet werden.

Strukturale Textanalyse und metaphorische Verklammerung sind freilich keine Wundermittel. Michael Titzmann misslingen seine Beispielinterpretationen zweier kurzer Gedichte und Volker Klotz sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Emil Staiger legt den Finger auf die Wunde des Interpretationsproblems, wenn er paradox feststellt: „das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein“.[9] Die Methode des hermeneutischen Zirkels, deren prominentester Vertreter Friedrich Schiller sein dürfte, besagt, dass wir das Ganze aus dem Einzelnen, das Einzelne aus dem Ganzen verstehen.[10] Genau das ist aber das Problem. Es ist nicht schwer nachzuweisen, dass der Autor der Veröffentlichung der AKADEMIE sein schiefes Bauwerk mit dem hermeneutischen Zirkel konstruiert. Das Ganze ist bei ihm „Kommunikationslosigkeit und Gewalt“ und das findet er überall wieder. Dass er dem trivialen Schema: „ein Mann sieht rot“ aufsitzt (bei dem ein durch böse Umstände Drangsalierter nicht durch Geist zum Erhabenen gelangt, sondern endlich einmal ausrasten darf) kommt ihm selbstverständlich nicht in den Sinn. „Wir haben uns zu bemühen, richtig in den Zirkel hineinzukommen“, schlussfolgert Staiger, was besagt, dass der Interpret in der gleichen Wellenlänge schwingen muss, wie das Werk. Eine Folge des oben genannten Paradoxons ist, dass leichte, unmittelbar verständliche Texte für die Wissenschaft viel schwerer zu fassen sind als schwere.[11] Literatur, die auf Alltagssprache aufbaut, erweckt per se den täuschenden Eindruck, zu den leichten zu gehören. Büchners Woyzeck-Drama macht da, trotz der Schwierigkeiten, die es bereitet, keine Ausnahme. 

Textanalyse hat es mit zwei ganz verschiedenen, gleichzeitig aber innigst verschränkten Operationen zu tun, nämlich mit dem wissenschaftlichen Vorgehen im Logisch-Rationalen unter dem Einsatz von Empathie, in der ein reiches und empfängliches Herz schlägt.[12]  Es gibt prominentere Beispiele als die hier diskutierte Schrift der AKADEMIE, in der das daneben geht. Wir werden uns im Folgenden ein besonders prägnantes anschauen, weil es nicht nur die Fallstricke von Fehlinterpretation vorführt, sondern gleichzeitig den Rahmen für die wesentliche Thematik in Georg Büchners literarischem Werk absteckt: laut dem renommierten Literaturwissenschaftler Reinhold Grimm die „Sehnsucht nach Liebe“.[13]

Wir schreiben das Jahr 1979, die Edition Text und Kritik gibt den Sonderband Georg Büchner heraus, in Band I/II nennt Grimm in seinem Artikel  [14]

Grimms Text vollbringt nun das Kunststück, einen hermeneutischen Salto mortale zu schlagen. Grimm setzt ein mit der Feststellung, dass einer fatalen Liebe in Verbindung mit Wahnsinn, Mord und Selbstmord in Büchners gesamtem literarischen Werk ein zentraler Stellenwert zukomme, dass Wiege, Schoß und Grab bei ihm eins seien, um dann mit einer Eloge auf Büchners Eros zu enden. Wohin man bei diesem Dichter blicke, im Leben wie im Werk, begegne einem das Erotische, und stets in vollstem Umfang und in jeglicher Gestalt. Man könnte dem am Ende sogar zustimmen, wenn man dabei das zutiefst Tragische, von dem Grimm ja ausgeht, nicht aus den Augen verliert. Dem Germanisten gehen gleichsam die Pferde durch, wenn er gegen Ende resümiert: „Büchner war Erotiker und Revolutionär, war erotischer Revolutionär und revolutionärer Erotiker.“ [15] Ergo: Wenn man nicht höllisch aufpasst stellt sich der hermeneutische Zirkel als Teufelskreis heraus – ob man ihn nun bewusst anwendet oder leugnet.

Noch einen Schritt näher an die Problemlage heran führt Grimms Vergleich zweier identischer Motive aus dem Woyzeck und aus Dantons Tod. Daran an knüpfte sich seinerzeit eine kuriose wie überflüssige, bis hin zu persönlichen Anfeindungen ausgetragene, gleichzeitig aber  höchst aufschlussreiche Kontroverse über Grimms Vorschlag einer Konjektur. Büchners zweiter Handschriftenentwurf enthält eine partiell gestrichen Passage, in der Woyzeck erzählt, dass er einen kleinen Hund hatte, der an einem großen Hut schnuffelte und nicht hinaufkonnte: Woyzeck habe ihn aus Gutmütigkeit draufgesetzt. Grimm schlägt vor, den ‚Hut‘ durch einen ‚Hund‘ zu ersetzen: Selbst wenn Büchner völlig klar und eindeutig „Hut“ geschrieben habe, so habe er „Hund“ gemeint. Man fragt sich – oder vielleicht auch lieber nicht – warum das bei einigen Literaturwissenschaftlern einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Grimm verfügte über ein hervorragendes Argument:  In Dantons Tod wird in der zweifellos gleichen Geschichte aus dem „Hut“ nämlich ein „Bologneser Schoßhündlein“. Die Passage im Ganzen:

„LACROIX Auf der Gasse waren Hunde, eine Dogge und ein Bologneser Schoßhündlein, die quälten sich […] Das fiel mir nur grade so ein und da mußt‘ ich lachen. Es sah erbaulich aus! Die Mädel guckten aus den Fenstern, man sollte vorsichtig sein und sie nicht einmal in der Sonne sitzen lassen, die Mücken treiben’s ihnen sonst auf den Händen, das macht Gedanken.“

Wer Büchners oft schwer lesbare bis unleserliche Handschriften und die darin enthaltenen Schreibfehler einmal als Faksimile vor sich gesehen hat, der greift sich im Hinblick auf diese Auseinandersetzung an den Kopf. Worum es uns hier aber geht ist etwas anderes. Grimms Aufmerksamkeit entgeht, und das keineswegs zufällig, dass in beiden Fällen Kinder als Zuschauer genannt werden. Lacroix unterstreicht das explizit. Woyzeck bringt zudem eine Variante in das Motiv, die es erheblich verschärft: Er wirkt aktiv mit und hilft dem kleinen Hund auf den großen.

Eine präzise Analyse, die wir uns hier ersparen, würde die pädosexuelle Konnotation beider Passagen nachweisen. Für uns genügt es, im Hinblick auf die metaphorische Verklammerung die Glieder: ‚Sonne‘ (Allegorie der sexuellen Hitze), ‚Mücken‘ (klein, offen sexuell konnotiert, in intimster Nähe), ‚abartige Kopulation von ‚klein‘ und ‚groß‘, ‚Fenster‘ (wie auch ‚Auge‘ = Wahrnehmung) festzustellen. Wir brauchen uns überhaupt nicht interpretierend festzulegen. Es reicht aus, die Daten wahrzunehmen und als Teil der metaphorischen Verklammerung zu verbuchen. Nur muss das Gefühl korrekt resonieren. Wie unzuverlässig Gefühl und hermeneutischer Zirkel sein können, wie sehr (aus unter anderem akademischerseits tabuisierten Gründen) zu oberflächlich angesetzte falsche Ganzheit zu täuschen vermag, belegt Reinhold Grimms abschließende Feststellung:

„Tierische Triebhaftigkeit, der Sexus in seiner niedrigsten Form, und menschliche Gutmüthigkeit, die Herzensgüte noch gegenüber der unvernünftigen Kreatur, sind hier geradezu programmatisch vereinigt. In der Tat: nicht [16]

Obwohl Grimm sich kolossal vergaloppiert trifft er ins Schwarze. Mit der Kombination der den Spielkarten entnommenen Codes cœur beziehungsweise carreau beginnt Georg Büchners poetisches Schreiben, als auch das Revolutionsdrama Dantons Tod. Georg (sic) Danton, den Grimm instinktiv zu einem Georges (sic) verfälscht, sitzt auf einem Schemel zu Füßen seiner ihm angetrauten Julie und lamentiert über eine etwas entfernt am Spieltisch sitzende Dame, von der man sage, dass sie ihrem Mann immer das cœur und anderen Leuten das carreau hinhalte. Ersichtlich hat der Autor dieses an den Haaren herbeigezogene Arrangement konstruiert, um, wie der Germanist feststellt, mit dem carreau ein zum cœur „frivoles, obszönes Gegenbild von unzweideutiger Anzüglichkeit“[17] anbringen zu können. Grimm geht davon aus, dass der Zusammenklang dieser beiden Codes für Georg Büchners literarisches Werk konstitutiv ist und dürfte damit richtig liegen. Die Frage stellt sich nur, in welchem Verhältnis der poetische Reiz dieser Kombination zu den Inhalten steht. Der Autor von „Cœur und Carreau“ beantwortet die Frage, ohne sie zu stellen und zwar falsch. Der infantile Georg  Danton zu Füßen seiner Julie ist nicht der Georg Danton, der stirbt und dieses Sterben ist ja, wie der Titel des Revolutionsstücks bereits kundtut, hauptsächlich Gegenstand des Dramas. „Sehnsucht nach Liebe“: Ja. Bedrückende Todesnähe: Erst recht. Das literarisch im Werk verschiedentlich variierte Zeugen im Schönen des carreaus führt zum dramatischen Untergang und damit erst zu einem cœur, das seinen Namen auch verdient, das aber dem Georg Danton vor dem halb freiwilligen Gang in die Todeszelle noch nicht zur Verfügung steht.

Im Wesentlichen wird diese Transformation im  ersten Akt des Revolutionsdramas abgeschlossen. Büchners nächste Thematisierung des ‚carreaus‘, zudem noch im Klartext und das gleich in der anschließenden Szene (Eine Gasse, Simon, sein Weib)  muss dem Literaturwissenschaftler Grimm irgendwie entgangen sein. Cœur und carreau könnten darin zynischer nicht verknüpft sein: weiblicherseits, was der männlichen Seite den Ruf nach einem Messer entlockt. Woyzeck lässt grüßen.

Das ‚brave‘ Sannchen, Simons und seines Weibs Tochter, ernährt die Familie „da hinunter um die Ecke“ dadurch, dass die jungen Herren bei ihr die Hosen herunterlassen, während die Mutter da so auf einem „Stein in der Sonne“ sitzt und sich wärmt. Inwiefern Simons Beruf als Souffleur und Theaterprofi  eine Anspielung darstellt, muss dahingestellt bleiben, jedenfalls hören wir aus dem Mund der Mutter folgenden unglaublichen Zynismus:

 „Wir arbeiten mit allen Gliedern“, warum denn nicht auch damit, ihre Mutter hat damit geschafft wie sie zur Welt kam, kann sie für ihre Mutter nicht auch damit schaffen, he? und tut’s ihr auch weh dabei, he?“

Wenige Szenen später sitzt Marion zu Füßen Dantons und anstatt mit ihm das zu tun, weswegen er bei ihr ist, erzählt sie. Für einen Autor, der literarisch neue Gefilde sucht, ist das ein geradezu programmatischer Eros. Marion vergleicht sich selbst in ihrer Unbezogenheit mit dem Meer, das alles verschlingt und sich tiefer und tiefer wühlt; auch Büchners Figur Lenz kennt wortwörtlich solche Gefühle von Entgrenzung (und schlägt den Kopf an die Wand oder versetzt sich einen heftigen physischen Schmerz, um sich zu spüren). Marions Opfer, der junge Mensch, bringt sich um und wird hinter vorauslaufenden Kindern im Mondschein in einem Korb unter ihrem Fenster vorbeigetragen. Dantons innere Wandlung ist damit eingeläutet.  Angelegentlich einer Promenade liebeshungriger Leute, in der sich der Autor im Revolutionsdrama letztmalig so richtig unanständig austobt, wird die gewonnene Distanz deutlich: „Ich wittre was in der Atmosphäre, es ist als brüte die Sonne Unzucht aus.“ Büchners Figur Woyzeck wird daraus die Konsequenzen ziehen. Bereits hier zeigt sich aber mit der ‚Sonne‘ einer der spezifischen Codes der metaphorischen Verklammerung im Woyzeck.

Reinhold Grimm startet korrekt und landet Bruch, aber er bleibt am originalen Text und gelangt zu Erkenntnissen. Zum Beispiel der, dass Woyzeck seine Geliebte „in dumpfer Verzweiflung, zwanghaft und methodisch um[bringt, er], ersticht sie straft und richtet sie förmlich auf gleichsam rituelle Weise.“ [18] An diesen Punkt wird der hermeneutische Zirkel anzusetzen sein. Rituale kommunizieren – und zwar nicht horizontal, sondern vertikal. Nur hermeneutische Stümper kontaminieren ein Werk durch zeitgenössische Prätexte, wie Bezüge zu einem historischen Georges Danton (den das Thema cœur und, respektive oder carreau kaum interessiert haben dürfte). Solche Verfahren sind sprechende Dokumente von textanalytischer Hilflosigkeit. Die seitens der AKADEMIE gutgeheißene Schrift illustriert ihre Unfähigkeit zudem noch durch halb- und ganzseitiges Bildmaterial, beispielsweise zu der öffentlichen Hinrichtung des Johann Christian Woyzeck 1824, zu dem Hofrat Johann Christian August Clarus, der Woyzeck im Hinblick auf Zurechnungsfähigkeit zu begutachten hatte, einem Plakat zeitgenössischer Wandermenagerien, einen Regimentstambourmajor und so weiter. Selbstverständlich führt das auf falsche Fährten. Die Jahrmarktsszenen im Woyzeck persiflieren den zeitgenössischen Universitätsbetrieb, das verrät der vom AKADEMIE-Text sogar abgedruckte auktoriale Fauxpas, der den Marktschreier das Publikum (unter dem sich auch die weibliche Hauptfigur befindet) mit „meine Herren, meine Herren“  anreden lässt, wobei eine zeitgenössische rein männliche Akademikerschaft durchschimmert. 

Gibt schon Reinhold Grimm in textanalytischer Hinsicht wichtige Anstöße, schießt dabei  aber übers Ziel hinaus, so sind die Erkenntnisse Volker Klotz‘ wirklich bahnbrechend, obwohl er kurz vor dem Ziel stehen bleibt und die Augen verschließt. Wenn Friedrich Schiller im 22. Brief der ästhetischen Erziehung von einem Werk verlangt, dass die Form den Stoff verschlingt, dann erfüllt die von Büchner entfaltete und von Klotz beschriebene metaphorische Verklammerung diese Forderung zu einhundert Prozent, während die Fixierung auf historische Vorlagen den Stoff wieder einsetzt und die literarische Form zerstört.

Uns interessieren insbesondere zwei Elemente des motivisch-metaphorischen Netzes: das ‚Messer‘, sowie dessen Ableger ‚stechen‘, und ‚Stich‘ und die ‚Sonne‘ mit dem Ableger ‚heiß‘, die wir bereits aus dem Revolutionsdrama kennen. Zutreffend führt Klotz noch das rhythmische Motiv ‚stich tot‘ und ‚immer zu‘ an. Dass letztere miteinander korrespondieren akzeptiert die Woyzeck-Rezeption mittlerweile, eins davon entstammt der Stimme aus dem Boden, die zum Erstechen des weiblichen Opfers auffordert, das andere Woyzecks Beobachtung des Geschlechtsverkehrs im Wirtshaus, das faktisch auf ein Bordell, ein House oft he rising sun, hinausläuft. Womit wir implizit wieder beim carreau wären, das von Woyzeck aus spezifischen Gründen nur mit dem Messer bedient werden darf. Warum das so ist, wird die metaphorische Verklammerung aufzeigen.  

Zu dem Fehler, werkfremde Prätexte hinzuzuziehen, greift zwangsläufig der Film in Form von Bildern. Er kann nicht anders. Gleichwohl gibt es auch hier ein Weniger oder Mehr.  Werner Herzogs Woyzeck-Film meint ganz zu Beginn menschenverachtendes Exerzieren zeigen zu müssen, worauf Büchners Text aus ganz bestimmten Gründen verzichtet. Dafür streicht Herzog dann an anderer Stelle unabdingbare Passagen. Dem Ganzen die Spitze auf setzt Hans C. Blumenberg in der ZEIT 23/1979, wenn er schreibt, dass Herzogs Woyzeck dem Büchners „unendlich genau“ folge. Woyzeck muss mitnichten exerzieren. Als ihm danach ist, verlässt er mir nichts, dir nichts Wachtstube und Kaserne. Warum? Weil sein Kamerad Andres (dessen Name möglicherweise eine andere  sexuelle Orientierung anzeigen soll, zudem schlafen beide auch in einem Bett) eine teilweise codierte Andeutung dessen macht, was sich im – nennen wir es im Klartext, Bordell, abspielt: „Sonntagsonnwetter“: doppelte ‚Sonne‘.  Woyzeck schließt sofort auf ‚heiße Hände‘; wir befinden uns mitten in der metaphorischen Verklammerung. Andres kommentiert abfällig: „Mit dem Mensch“. Womit er recht hat. Marie ist eine Hure, das sagt sie selbst und entsprechende Texte singt sie ihrem Kind und stimmt auch das Publikum diesbezüglich ein. Damit entfiele eigentlich der Grund für den Affekt. Auf eine im Bordell arbeitende Hure ist man normalerweise nicht eifersüchtig.

Nicht nur, dass Woyzeck ohne jegliche nachteilige Folgen die Kaserne verlässt ist äußerst merkwürdig (was zu berechtigten Zweifeln führen sollte, die militärische Kulisse in ihrem Nominalwert zu nehmen) sondern noch mehr, dass der sichtlich Erregte nicht ins Bordell hinein darf, sondern sich ans ‚Fenster‘ stellt (das in der metaphorischen Verklammerung zum ‚Auge‘ gehört). Die Szene wird dadurch gleichsam surreal, was sicherlich den zeitgenössischen Grenzen des Anstands geschuldet ist, aber dem Sprachlichen einen (modern wirkenden) Eigenwert erteilt. Marie stößt im Vorbeitanzen „immer zu, immer zu“ aus. Sieht man sich die Szene und deren Figurenrede genau an, wird ein Subtext sicht- und spürbar:

„WOYZECK (erstickt) Immer zu – immer zu! (Er fährt heftig auf und sinkt wieder zurück auf die Bank.) Immer zu, immer zu. (Er schlägt die Hände ineinander.) Dreht euch, wälzt euch. Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, dass alles in Unzucht sich übernander wälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh. Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den Händen, wie die Mücken. – Weib. – Das Weib ist heiß, heiß! – Immer zu, immer zu. (Er fährt auf.) Der Kerl! Wie er an ihr herumtappt an ihrem Leib.“

Woyzeck wirkt wie ein Kind, das seine Mutter beobachtet. Ein Erwachsener würde  selbstverständlich anders reagieren. Vor allem das Hände-Ineinanderschlagen ist in dieser Hinsicht auffällig. Die Formulierung „tut’s einem auf den Händen, wie die Mücken“ erinnert an Dantons Tod und die „Mädel“. Es ist aber nicht notwendig, einzelne Passagen verbindlich zu analysieren, sondern sprachliche Reize in Beziehung zu setzen, die sich im Zusammenhang der metaphorischen Verklammerung später selbsterklären. Anschließend hört Woyzeck die Stimme aus dem Boden:

WOYZECK. „Immer zu! Immer zu! Still Musik. – Reckt sich gegen den Boden) He was, was sagt ihr? Lauter, lauter, stich, stich die Zickwolfin tot? stich stich die Zickwolfin tot. Soll ich? Muß ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich tot, tot.

Zu beachten ist zweierlei. Erstens versichert sich Woyzeck sehr genau, ob er sich nicht verhört. Er vermag sogar zu zweifeln. Zweitens, das wird generell übersehen, erhält er nicht nur einen schicksalhaften Auftrag, sondern auch eine Information. Und zwar verbindet der Autor diese Information mit einer Leerstelle. Der Name „Zickwolf“ fällt nur hier, nicht in der Figurenbenennung. Die Hypothese, dass ‚Zickwolfin‘ und ‚Woyzecke‘, der Name der in der Urfassung des 1. Handschriftenentwurfs fällt, identisch sind, kann daher nicht falsifiziert werden. Dass das „immer zu, immer zu“ resoniert mit dem impliziten carreau der Bordellszene. Der Mordmpuls weist also eine bestimmte Form auf. Sie beinhaltet Erkenntnis und Identität durch das Datum ‚Zickwolf‘. Und sie schließt das Begehren ‚sexuelle Vereinigung‘ mit dem entgegengesetzten Begehren nach ‚absoluter Befreiung‘ kurz.

In seiner Beschreibung der metaphorischen Verklammerung vergleicht Volker Klotz Büchners Woyzeck mit Wedekinds Frühlingserwachen. Hat man sich erst einmal die literaturfremden Prätexte aus dem Kopf geschlagen,[19] vermag sich der Blick dafür öffnen, dass sowohl Sprache als auch Handlung (Woyzeck verlässt eigenmächtig die Kaserne; er muss auf der Bank vor dem Bordell bleiben; er schlägt angesichts seiner Beobachtung die Hände zusammen, handelt aber nicht; seine Passivität erzeugt die innere Stimme aus dem Boden; zu dem Hauptmann sagt Woyzeck: „Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, - und hab sonst nichts auf der Welt; den gleichen Ton schlägt auch die Märchenparabel an) rational, wie emotional das signalisieren, was Klotz als „beschränkte Mündigkeit“ fasst, aber nur Wedekind zuordnet:

„Die Hauptpersonen in Frühlingserwachen [das wäre im Woyzeck in den Singular zu setzen] sind Kinder in einer besonders fragilen Phase ihrer Entwicklung. Es sind unfertige, in hohem Maße unbestimmte, unentschiedene Menschen. Ihre personale Einmaligkeit ist noch nicht profiliert. Ihr Verhalten entspringt mindestens in gleichem Maße der kollektiven Gemeinsamkeit mit ihren Altersgenossen in gleicher Lage wie ihrem individuellen Kern. Doch gerade auf diese Angriffsfläche ihrer Unfertigkeit wirkt ihr Schicksal ein, an ihrer personellen Unmündigkeit entzündet sich die Tragik.[20]

Die ‚metaphorische Verklammerung‘ ist sowohl ein literarisch wirkungsvolles Kunstmittel als auch ein Analyseinstrument. Bevor wir zum Showdown von Büchners letztem Handschriftenentwurf kommen, es handelt sich um drei Szenen, die vermutlich zu dem letzten gehören, was der Autor vor seinem Tod zu Papier gebracht hat, schieben wir eine Szene aus dem zweiten Handschriftenentwurf ein, die ein berühmtes Diktum Woyzecks  enthält. Der Eifersüchtige geht auf die weibliche Figur, hier noch Louisel genannt, los und muss folgendes einstecken:

„LOUISEL. Rühr mich an Franz! Ich hätt lieber ein Messer in den Leib, als die Hand auf meiner! Mein Vater hat mich nicht angreifen gewagt, wie ich 10 Jahr alt war, wenn ich ihn ansah.“

Das hat gesessen. Woyzeck wird gleichsam in einen anderen Zustand katapultiert, der aus einer philosophischen Höhe jenseits der Erdanziehungskraft konstatiert: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.“ Inwieweit das Gefühl, obgleich es nichts verstanden hat, diese Botschaft aufzunehmen bereit ist, zeigt die Ankündigung von Werner Herzogs Woyzeck-Film. Bleibt anzumerken, dass Louisels Bann das für das carreau zuständige Pendant gezwungenermaßen als auch aus freiem Willen zum Messer wandelt, was zweifellos und logisch nicht anders erklärbar der Abwehr eines Tabubruchs geschuldet ist. Ödipus lässt grüßen. Damit erhält das motivisch-metaphorische Netz seinen Knotenpunkt. 

Nun geht es zur Sache und jeder muss selbst entscheiden, ob der Autor Georg Büchner rhetorisch brillant zu Werke gegangen ist, oder dem Sozialdrama oder was der Woyzeck immer auch sein soll, ein Kuckucksei ins Nest gelegt hat.

Woyzeck kauft sich ein Messer. Für einen Soldaten, der in der vor kurzem auf der Bühne Stöcke geschnitten hat, eine demonstrativ auffällige Überflüssigkeit. Aber da ist ja noch die metaphorische Verklammerung, bei der das Metaphorische mitunter zum Faktischen wird, wie Klotz festhält, [21] in Anbetracht des Messerkaufs und der sich daran anschließenden Szene aber nicht realisiert. Für die nächste Szene verlangt der Titel, dass wir Marie allein, in der Bibel blätternd, vor uns sehen. Sie bittet um Vergebung und liest die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin, welcher ja auch tatsächlich vergeben wird. Die Fortsetzung verlangt textanalytische Präzision, denn nun ist Marie plötzlich nicht mehr allein, hinzu kommt ihr kleines Kind, das sich an sie drängt und anschließend auch noch der Narr, der das Kind nimmt und vermeintlich kryptische Märchensprüche von sich gibt. Technisch gesehen sind die Figuren Kind und Narr, da nicht im Szenentitel ausgewiesen sind, imaginäre Hilfskonstruktionen.

Dem Vergebungsgesuch wird nicht stattgegeben. Die Woyzeck-Rezeption und selbstverständlich auch unser Text über „Kommunikationslosigkeit und Gewalt“ wissen sich das nicht anders zu erklären, als dass Marie es eben nicht möglich sei, „hinfort nicht mehr zu sündigen“. Nur fehlen die Gründe, beziehungsweise nimmt man das sich an die Mutter drängende Kind als Grund. Das ist sogar korrekt wenn man in dem Ausruf der Mutter:

„Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz. Fort! Das brüht sich in der Sonne!“

den ‚Stich‘ wörtlich versteht und den Wandel des Metaphorischen zum Faktischen nachvollzieht. Vermutlich mehr unbewusst als bewusst sträubt sich die Rezeption dagegen, muss dafür das laut Szenentitel imaginäre Kind für bare Münze nehmen. Hermeneutisch ist das höchst unbefriedigend, denn neue Fakten kommen dadurch nicht zum Vorschein. Dass die Mutter ein kleines Kind hat, weiß sie bereits vor ihrem Gebetsversuch. Was ihr plötzlich in den Sinn kommt und neue Tatschen schafft, die das Kind nun tatsächlich zu einem Problem machen, das mit einem schlichten Ehebruch ganz und gar inkommensurabel ist und Marie zu recht in abgrundtiefe Verzweiflung stürzt ist, dass es ein weiteres Kind gibt, das sich an Marie (beziehungsweise soeben noch Louisel) drängt und gedrängt hat und ihr einen physischen Stich gibt beziehungsweise geben will. Wenn der Autor das Kurzzeitgedächtnis seines Publikums erfolgreich aktiviert hat, dann erinnert es sich an den Messerkäufer und denkt erst  danach an den gemeinsamen Sohn, der nun eine Verfehlung ganz anderer Art aufs Tapet bringt. Wieder einmal vergewissern wir uns, dass wir uns nicht festzulegen brauchen. Was wir in die abgründige Tiefe der Psyche projizieren, ist das Werk der metaphorischen Verklammerung, die mit der sich an den Stich anschließenden ‚Sonne‘ freilich einem Publikum, das Ohren und Augen hat aber nicht Hören und Sehen will, nun einen veritablen Knüppel zwischen die Beine wirft. Weitere folgen, denn daraufhin tritt der gleichfalls im Titel nicht genannte, infolgedessen imaginäre Narr auf, nimmt sich das Kind und sagt:

„Der hat die golden Kron, d. Herr König. Morgen hol ich der Frau Königin ihr Kind. Blutwurst sagt: komm Leberwurst.“

Aus einer kurzen Szene eines als Ergänzungshandschrift bezeichneten Entwurfs geht hervor, dass der Narr und Woyzeck sich gemeinsam um das Kind bemühen werden, vermutlich nach Maries Hinrichtung. Das Kind entscheidet sich frei für den Narren, eine Handlung, deren hermeneutische Bedeutung überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Vergleichen wir den Erkenntnisgewinn des metaphorischen mit dem wörtlichen ’Stich‘: Metaphorisch: Null. Wörtlich: Marie erkennt sich als „Sonne“, realisiert (antizipierend) Woyzecks Mordauftrag, Anagnorisis und Peripetie im klassischen Drama. Der Narr antizipiert, dass er sich das Kind holen wird, er identifiziert Woyzeck als „Blutwurst“, das Kind wird als „Leberwurst“ codiert. Die Bilanz: Inkohärenz versus Kohärenz, ein genialer, plötzlicher Umschlag von der indirekten zur direkten Rede als dramaturgischer Höhepunkt der Woyzeck-Geschichte. Und last but not least: Eine komplexe Verschränkung der fast durchgängig spürbaren Sphäre des Kindes mit einer erwachsenen, intellektuell anspruchsvollen analytischen Durchdringung einer beziehungsmäßigen Verstrickung, in deren Kern das Infantile erneut aber bewusst wiederentdeckt wird.

Es bleibt die Schlusszene der Hauptfassung, deren letzter Satz in Anbetracht der Biografie des Autors eine geradezu erschütternde Wahrheit zukommt:

„Ja Andres, wenn der Schreiner die Hobelspän sammelt, es weiß niemand, wer sein Kopf drauf legen wird.“

Woyzeck ist am Ende, er verfügt über seine Habseligkeiten. Nur die metaphorische Verklammerung weiß bislang, warum. Sie hat das letzte Wort noch nicht gesprochen.

„WOYZECK […] Mei Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die Händ scheint. Das tut nix.“

In der Summe ergibt das ‚heiße Händ‘. Aber diesmal sind nicht die Maries, wie im Bordell, sondern die der Mutter.

Woyzeck liest anschließend von einem Papier die Fragmente seiner Existenz ab, viel ist es nicht, militärischer Status und Alter. Das gehört in die profane Wirklichkeit, wie immer man sie mit der verdeckten aber wirkungsvollen Rede der metaphorischen Verklammerung vereinbaren will, beispielsweise als Erinnerung.  Diese hat aber noch einen letzten Trumpf. Die Worte „Mariae Verkündigung“ stehen auf dem Zettel, passen aber nicht zu dem errechenbaren Datum, das eher auf Mariä Empfängnis verweist, daher geht man von einem Irrtum des Autors aus.

Nur …haben wir sie nicht kurz zuvor vernommen, Maries Verkündigung?

 

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Die Fortsetzung der Handlung findet sich in früheren Handschriftenentwürfen. Wie Reinhold Grimm richtig erkannt hat und Tim Webers Dissertation nicht  wahrhaben will, wird die Ermordung des weiblichen Opfers als  Ritual ausgeführt, mit einer doppelten Anspielung auf eine Reinigung. Die ‚Sonn‘, die St. Lichtmess scheint und besungen wird, können wir im Rahmen der metaphorischen Verklammerung  mittlerweile ‚lesen‘, St. Lichtmess, Mariä Reinigung, ist selbsterklärend. Dass das Korn zu diesem Zeitpunkt im Blühn ist, verdeutlicht, dass es nicht um äußere, sondern innere Abläufe geht und kommt einem romantischen Verfremdungseffekt (Tieck) gleich.

Bei „Ringel, Ringel Rosenkranz“ lautet die extern zu ergänzende (und hier erlaubte beziehungsweise geforderte) Fortsetzung: Setz ein Töpfchen Wasser bei, morgen woll´n wir waschen, kleine Wäsche, große Wäsche, allerhand sehr schöne Wäsche, Kikeriki.“ „Kikeriki“ ersetzt der Text durch „König Herodes“. Auch das muss nicht eigens erklärt werden. Die Anklage platziert das weibliche Opfer inmitten eine Schar von Kindern, die Märchenparabel fungiert als Anklageschrift, nach deren Verlautbarung durch die Großmutter der Henker sofort zur Stelle ist. Sowohl inhaltlich, es geht um ein armes einsames Kind, als auch formal steht das Kind dabei im Fokus, denn wie bei dem Narren auch, verwendet der Dramentext Märchensprache. Das Kind will zu Sonne, Mond und Sternen gehen (hier ist noch die Märchensonne gemeint, nicht die der metaphorischen Verklammerung) diese Instanzen entpuppen sich aber als faules Holz, verwelkte Sonnenblume und kleine goldene Mücken. Jetzt leuchtet die metaphorische Verklammerung rot auf, die ‚Sonne‘ ist im ‚Goldenen‘ enthalten, die Mücken sind einschlägig definiert. Die Erde wird zu einem umgestürzten Hafen, das heißt einem ausgelaufenen Nachttopf. Das ist per se prekär und würde jeden Kinderpsychologen alarmieren. Kinder können die unteren Körperflüssigkeiten noch nicht unterscheiden. Das weibliche Opfer (sein ursprünglicher Name Margreth spielt nicht umsonst auf Goethes Gretchen im Faust I an) ist bei den Kindern beliebt. In der Urfassung hat sie noch kein (kleines) eigenes. Dafür heißt sie Woyzeck. Hinsichtlich einer Konkretisierung der Anklage hält sich der Text bedeckt, Marie als Mutter deutet durch ihren Gesang nicht unbedingt moralische Zuverlässigkeit an. Analoges gilt für Woyzeck. Er hilft seinem kleinen auf einen großen Hund. Heute würden wir ganz allgemein von Kinderpornografie sprechen. Auf dem Jahrmarkt ist die Rede davon, dass gekrönte Häupter auf kleinen Kanaillen stehen. Irgendwer muss diese ja schließlich liefern. In der Hauptfassung befasst sich Woyzeck folgendermaßen mit seinem Sohn:

WOYZECK  S’ist gut Marie. – Was der Bub schläft. Greif‘ ihm unter’s Ärmchen, der Stuhl drückt ihn. [Marie hat das Kind zuvor bedroht und zum Einschlafen gezwungen, um sich im Spiegel betrachten zu können.] Die hellen Tropfen steh’n ihm auf der Stirn, Alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. […]

Drei Mal die ‚Sonne‘ beziehungsweise ihre Wirkung. Wer jetzt an Simons Tochter Sannchen im Revolutionsdrama und deren Mutter denkt, dürfte kaum schief liegen. Eine andere Form von Kinderarbeit hineinzuinterpretieren, dürfte absurd sein.

Die Hinrichtung findet im Wald statt, „am roten Kreuz“. Selbst wenn es hundert solcher Plätze in einem Stattwald gäbe, wären diese damit nicht gemeint. Die Atmosphäre wird ausgesprochen unheimlich, Spaziergänger hören es rufen, Nebel, Käfer summen wie gesprungene Glocken. Der Täter sucht das Bordell auf, und verrät sich dort durch Blutflecke. Seine Tat hat ihm keine Erleichterung verschafft, im Gegenteil: Er zeigt Anzeichen eines Serienmörders und bedroht die Prostituierte Käthe. Kinder unterhalten sich darüber, dass Margrethchen fort sei und im Wald eine liege. Louis kehrt an den Tatort zurück:

„Margreth? Ha Margeth! Still. Alles still! Was bist du so bleich Margreth? Was hast du ei rothe Schnur um d. Hals? Bei wem hast du das Halsband verdient, mit dei Sünde? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich jetzt gebleicht. Was hängen die schwarze Haare, so wild? […]“

Unmissverständlich und wiederum als Verfremdungseffekt spielt die „rote Schnur um den Hals“ auf Gothes Margret an, die geköpft wird, während Louis sein Opfer erstochen hat. Aber die ‚Sünde‘ verbleibt als metaphorischen Verklammerung codiert. Eine Tatsache steht indes fest: Die genannten Ausbrüche heftiger Anschuldigungen entstammen dem Mund einer Hauptfigur, die weder ihren Hauptmann rasiert, noch Stöcke im Gebüsch schneidet oder als Proband eines Ernährungsexperiments dient. Die dazugehörigen Figuren spielen in der Urfassung noch nicht mit.

Erst nach der Fertigstellung des Mordkomplexes gelingt dem Autor eine Dramenexposition, die ihren Namen wert ist. Er wird auf demselben Blatt weiterschreiben, auf dem er die erste Entwurfsstufe abbricht. Diese endet damit, dass ein Polizist konstatiert:

„Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann wir haben schon lange so kein gehabt.“

Der Weg in Richtung Justizdrama führt offensichtlich nicht weiter. Die Woyzeck-Geschichte ist auserzählt, aber nicht ausdramatisiert. Mit den Budenszenen in der Urfassung hatte der Autor eine Universitätssatire an den Anfang gestellt, in der die männliche und weibliche Hauptfigur noch völlig unbeteiligt sind. Der Entwicklung dieser beiden Figuren dienen die späteren Entwurfsstufen und die neue Exposition. Der Autor setzt neu an, macht aber atmosphärisch da weiter, wo er mit dem Mordkomplex aufgehört hat. Die Szenerie spielt draußen vor der Stadt. Woyzeck sieht einen rollenden Kopf, den aufzuheben, weil man ihn für einen Igel hält, tödlich ist. Er stampft auf den Boden und hört, dass da unten alles hohl ist. Das anvisierte zeitgenössische Publikum hätte hier wohl gelacht, denn der Bühnenboden ist und klingt wirklich hohl. Die Zuschauer sollten eine Art Hamlet vor sich sehen, leicht ironisiert und zugespitzt. Der Geist, dem Hamlet begegnet (Woyzeck sieht den Untergang von Sodom und Gomorrha am Horizont) spricht von einem unterirdischen Schrecken, der die Haare sträuben macht, wie bei einem Stacheltier. Hamlet hebt in der Totengräberszene den rollenden Schädel des Narren auf und stirbt bald darauf. Maries  fehlschlagender Gebetsversuch erinnert an eine ähnliche Szene des Brudermörders. Hamlets Mutter beklagt sich, dass der Sohn sie mit den Augen ersteche aber Hamlet hat Anweisung von unten, die Mutter zu schonen (das muss Ophelia ausbaden). Von dem Dänenprinzen stammt auch die spezifische Verwendung der ‚Sonne‘. Der König fragt ihn, ob stets noch Wolken über ihm hingen. Hamlet antwortet darauf: „Nicht doch, mein Fürst, ich habe zu viel Sonne.“ Auch die entlarvende Märchenerzählung findet ihr Vorbild bei Shakespeare. Die Schauspieltruppe führt in einem Binnenspiel die Mordhandlung vor, der König verrät sich durch seine Reaktion.

Der Dramatiker Franz Xaver Kroetz hat die Behauptung aufgestellt, dass Georg Büchner von Entwurfsstufe zu Entwurfsstufe angepasster geworden sei, sich in der Hauptfassung quasi selbst zensiert habe und er hat seiner eigenen Bearbeitung des Dramenfragments daher die Urfassung (mit „stich die Zickwolfin tot“) zugrunde gelegt. Es sei immerhin schöner, seine Frau umzubringen, als einen One-Night-Stand. Kroetz hat allerdings nicht begriffen, dass der Autor seine Grobheiten codiert und dadurch poetisch stärker, rätselhafter und auch moderner wirkt. Aus:

 „abe* ich hab’s gesehen, daß er an die Wand pißte, ich steckt grad mi Kopf hinaus zwische* zwi Blattläuse*, die sich bgatteten, meiner Valnessia u. Myandren“

wird:

 „Ich hab’s gesehn, mit dießen Augen gesehn, ich streckte grade die Nase zum Fenster hinaus und ließ die Sonnenstrahlen hinein fallen, um das Niesen zu beobachten.“

‚Nase‘, ‚Niesen‘ und ‚Sonnenstrahlen‘  gehören zusammen. Wie ungefähr, deutet der ursprüngliche Kontext des „Hasenliedes“ in der zum dritten Mal überarbeiteten Dramenexposition an. Heute fungiert es als Kinderlied, dessen unterschwellig anzügliche Symbolik in Vergessenheit geraten ist. Wir befinden uns im zweiten Handschriftenentwurf, es wird ausgesprochen unappetitlich. Die Herausgeber der einzelnen Handschriftenentwürfe greifen deswegen mitunter zur Zensur selbst problemlos lesbarer Passagen. Wer genaues wissen will muss sich beispielsweise mit De Angelis Faksimilereproduktion[22] behelfen. Die Budenszene beispielsweise beginnt mit:

„WOYZECK He! Hopsa! Arm Mann, aller Mann, Arm Kind! Junges Kind + und +“ [23]

Problemlos im Faksimile entzifferbar ist das auktoriale „Rege und Faß“. Man kann darüber streiten, ob hier im Klartext einzusetzen ist, was Eugenie in Dantons Tod II,2 wegen Unanständigkeit Lust macht, rot zu werden, aber gerade die Auslassung scheint das zu bestätigen: Ein junger Herr plaudert über eine hübsche Dame mit einem alten Herrn. Sie sei von ihrem Friseur à l’enfant frisiert worden, der alte Herr gehe neben bei, sehe das Knöspchen schwellen und führe es in der Sonne spazieren und meine er sei der Gewitterregen, der es habe wachsen machen. In die metaphorische Verklammerung integriert gehört der ‚Regen‘ zu den ‚Körperflüssigkeiten‘.

Wenn der Handwerksbursche in der Hauptfassung, wie auch in den Bearbeitungen der Lese- und Bühnenfassungen auf dem Tisch predigt und zum Beschluss auffordert, übers Kreuz zu pissen, dann müsste er eigentlich in die Stube pissen, ein weiterer auktorialer Fauxpas, der daher rührt, dass die Szene im 2. Handschriftenentwurf ganz offensichtlich in der Toilette spielt. Diese Szene zum Vergleich heranzuziehen ist aufschlussreich sowie textanalytisch unabdingbar. Andres‘ Hasenlied in der überarbeiteten Exposition der Hauptfassung entstammt nämlich der Toilettenatmosphäre und führt diesen Kontext mit sich, allerdings stark und  kaum entschlüsselbar codiert. Gleichwohl sollte eine AKADEMIE-Veröffentlichung höheren Ansprüchen genügen. Die Einleitung zu dem Lied geben die Herausgeber der Teilentwürfe ungekürzt wieder:

„Wo ist mein Schatten hingekomm. Kei Sicherheit mehr im Stall. Leucht mir eimal einer mit d. Mond zwischen die Bein ob ich mei Schatte noch hab.   

Fraßen ab das grüne, grüne Gras / Fraßen ab das grüne grüne Gras / Bis auf den Rasen.“

Auch das folgende „Sternschnuppe, ich muß den Stern die Nas schneuzen“ wird im Allgemeinen noch korrekt dargestellt. Dann sträubt man sich. De Angelis Faksimile-Transkription führt an:

„Dß ist nit mi Geselle*, die Handthi*rung, ist di nicht, Schw*i, ei Thersh*it, Thierscheit, Vyhigkei mus bsorgn Mannes fallulus und empfiehlt sich nit mehr unzeugten Kind*. Mach  kei Loch in d*e Natur. […] Dße* Säugling, dßes schwach hülflos* Gschöpf, jen. Säugling […]

Bereits das Schriftbild lässt darauf schließen, dass der Autor seinen Text aus einem stark emotionalisierten und fast schreibunfähigen Zustand heraus verfasst hat. Immerhin lässt sich dem noch entnehmen, was ihn erregte.

Wer sich selbst an der Textanalyse versuchen will, der kann die Szene „Der Hof des Professors“ im Hinblick auf Fallhöhe, Animalisches und Sexuelles untersuchen und überprüfen, ob es hier um Befehl und Abrichtung geht, wie die Schrift der AKADEMIE behauptet, oder (um unter anderem durch Handlung) kommunizierte prekäre Anspielungen, auf die das Opfer völlig angemessen reagiert, weil es sie versteht. Im Rahmen der metaphorischen Verklammerung lässt sich dann auch bestimmen, wie die Erwähnung des Erbsenexperiments in diesen Zusammenhang einzuordnen ist.

 

Hochachtungsvoll,

Christian Milz, FRANKFURT AM MAIN

 

 

 PS. Ich wage einen Schritt in Richtung Interpretation. - Der >Woyzeck< ist eine Kreuzigung (Margreth liegt am roten Kreuz<, Louisel bzw. Marie ("ich könnt mich erstechen" bzw. "ich hätte lieber ein Messer in den Leib") stimmen damit teilweise aus freiem Willen überein, aus Selbsterkenntnis ihrer Schuld. Einer Schuld aber, die nicht in dem Spannungsverhältnis von Natur und Vernnft, der Verfehlung letzterer zu suchen ist, sondern in der Verfehlung der Natur in ihr selbst, mythisch als >furchtbare Mutter< zu fassen. Die Figuren sind frei von Rationalität und Vernunft. Das ist die Bühnenebene. Auf der Ebene der Rezeption wird die Vernunft analytisch mobilisiert, gleichzeitig die resoniert die eigene grobe, primitive Natur mit der Handlung und ihrem Kurzschluss, wie die Uroborosschlange, die sich selbst verschlingt. Insofern eignet dem Dramenfragment, das als abgeschlossen und vollendet anzusehen ist, ein ausgesprochen numinoser (vgl. Rudolf Otto >Das Heilige<) Charakter. Das Kreuz, an dem Marie und der mit ihr untergehende Woyzeck hängen besteht, ganzheitlich gesehen, aus einem horizontalen verselbstständigten Zeugungstrieb und einem vertikalen genauso verselbstständigtem Rationalismus. Der figürliche Repräsentant des Numinosen ist der Narr.

 

 

 

 

                                                                                            

 



[1]“Die Interpretation literarischer Texte, einst unumstrittenes Zentrum literaturwissenschaftlicher Arbeit, befindet sich in der Krise“, stellt Axel Spree in Kritik der Interpretation (Paderborn 1995, 9) fest. „‚Normal‘ scheint heute die Ablehnung der Interpretation zu sein, eine Rückbesinnung auf die Interpretation steht unter Rechtfertigungszwang, nicht ihre Kritik.“ Dagegen, so Spree weiter, stehe die verbreitete Auffassung, dass die Textinterpretation immer noch als die wichtigste Tätigkeit des Literaturwissenschaftlers anzusehen sei. Träfe diese Einschätzung zu, dann bilde die radikale Infragestellung der Interpretation nicht etwa ein Randproblem der Literaturwissenschaft, sondern eine massive Herausforderung ihres zentralen Anliegens. (ebd.)

[2] Dass es sich nicht nur um eine nur durch wissenschaftlichen Fortschritt alsbald zu schließende Lücke handelt, geht aus Michael Titzmann Strukturale Textanalyse (München 1977) hervor, die deutlich resignative Züge aufweist: Wären die Gründe dieses Verlustes an Ansehen [der Erstellung von Einzelanalysen] nur  rein wissenschaftlicher Art und z. B. durch – wahrlich berechtigte – Kritik an den überkommenen Analyseverfahren motiviert gewesen, hätte nichts näher gelegen, als eine Verbesserung dieser Verfahren anzustreben; die fast völlige Absetzung vom wissenschaftlichen Programm hingegen belegt wohl deutlich genug, daß solche Abstinenz – und wohl nicht zuletzt bei denen, die sie ideologiekritisch motivieren – auch aus ganz andersartigen Gründen motiviert sein muß, deren Erörterung wir uns erlassen.“ (15) Dass Titzmanns Versuch, durch 67 oft unmittelbar einleuchtende Interpretationsregeln einen wissenschaftlichen Schritt vorwärts zu machen, wenn überhaupt, akademisch nur eine höchst bescheidene Resonanz erführt, lässt darauf schließen, dass ein Ansatz zu einer verbindlichen Textanalyse nicht erwünscht ist, vielleicht auch weil sprachliche Texte einem anderen und in mancher Hinsicht störenden Paradigma gehorchen als dem derzeit dominierenden szientistischen. Allerdings ist Titzmann selbst an der Stagnation und dem intellektuellen Chaos nicht ganz unschuldig, weil er zwischen den notwendig zu unterscheidenden Stufen ‚Textanalyse‘ und ‚Interpretation‘ nicht unterscheidet, sondern beide gleichsetzt. (381) Zudem scheitert er an seinen beiden Beispielinterpretationen, weil er in der Ablehnung des hermeneutischen Zirkels und trotz dem prinzipiellen Zugeständnis, dass strukturalistische Methoden nicht dogmatisch der strukturalistischen Begrifflichkeit unterliegen müssen, dogmatisch am szientistischen Paradigma festhält.

[3] Unter anderem wie gesagt dadurch, dass man Textanalyse und Interpretation vermengt. Ein Seitenblick in Richtung Musik beispielsweise, wo man auch von Interpretation spricht, erweist auf Anhieb, wie unabdingbar eine solche Unterscheidung ist. Textanalysen und Textdarstellungen haben korrekt zu sein, Interpretation ist subjektiv, kreativ, inspiriert usw. und bestenfalls gleichzeitig objektiv. Vgl. Leonard Bernstein, „Brief an Franz  Endler, Beethovens Neunte“ in Erkenntnisse Hamburg 1982, 211.)

[4] Im Hinblick auf die spezifische Form der Gewalt, die die Figur Woyzeck ausübt, hat der renommierte Germanist Reinhold Grimm in „Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner“ in: Text und Kritik. Georg Büchner. Sonderband I/II, München 1979, 299) festgehalten, dass Woyzeck seine Geliebte in dumpfer Verzweiflung, zwanghaft und methodisch umbringe, sie ersteche, strafe und richte: und zwar förmlich auf gleichsam rituelle Weise.

[5] Tim Weber: Der ethnographische Blick. Büchners >Woyzeck< und das Volkslied“, Bielefeld 2018.

[6] Christian Milz: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen, Wien 2012. Weber kennt diese Untersuchung nicht oder führt sie nicht an, die von Johannes F. Lehmann in Germanistik 54/2014 rezensiert wird.

[7] Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960, 14. Auflage 1999.

[8] Klotz, 105

[9] Emil Staiger „Die Kunst der Interpretation“ in Tom Kindt, Tilmann Köppe: Moderne Interpretationstheorien, Göttingen 2008, 32.

[10] Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, 19. Brief.  

[11] Staiger, 31.

[12] Staiger, 34.

[13] Grimm, 299.

[14] Grimm, 299f.

[15] Grimm, 318.

[16] Grimm, 322.

[17] Grimm, 300.

[18] Grimm, 299.

[19] Der Bericht der AKADEMIE befindet sich diesbezüglich in einer großen wie schlechten Gesellschaft, beispielsweise frönt auch Arnd Beise: Einführung in das Werk Georg Büchners, Darmstadt 2010 ausgiebig

dem Quellenfetischismus. 

 

[20] Klotz, 138.

[21] Klotz, 105.

[22] Georg Büchner. Woyzeck, Faksimile, Transkription , Emendation und Lesetext, herausgegeben von Enrico De Angelis, München 2002.

[23] Frankfurter Ausgabe im Insel Verlag, herausgegeben von Henri Poschmann, 193