Eros und Gewalt in Dantons Tod
Von Christian Milz (Frankfurt a. M.)
In einem schmalen Œuvre von drei Dramen und einer Erzählung finden sich in Verbindung mit der Liebe: drei Selbstmorde, zwei Selbstmordversuche, ein potentieller Selbstmord, ein Mord sowie drei Wahnsinnige. Diese Bilanz stammt von Reinhold Grimm, der 1979 in seinem Aufsatz Cœur und Carreau[1] mit Bezug auf Dantons Tod weiter feststellt, »daß die Thematik der Liebe hier nicht minder beherrschend und wichtig ist als diejenige der Revolution«.[2] Grimm nennt im gleichen Atemzug die von ihm behauptete Gleichrangigkeit von Eros und politischem Diskurs »Ketzerei«, womit er sowohl auf die gelegentliche Überakzentuierung des Politisch-Sozialen in den Deutungen des Werks anspielt als auch auf das Sakrileg, diesen Diskurs nunmehr mit dem Erotischen zu vereinen. »Büchner war Erotiker und Revolutionär, war erotischer Revolutionär und revolutionärer Erotiker«[3] lautet das Fazit im Zeitgeist der 68er – an das diese Untersuchung anknüpft, allerdings aus der Distanz der Jahrzehnte mit einem etwas nüchterneren Blick auf den Diskurs von Eros und Gewalt.
Denn die Eingangsbilanz von Cœur und Carreau spricht wohl kaum für »die leibhafte Utopie, die konkrete Praxis erotischer Befreiung«[4] und die »soziale und sexuelle Umwälzung«,[5] sondern im Gegenteil für ein eher tragisches Verhältnis von Eros und Gewalt. Auch das sieht Reinhold Grimm durchaus, denn er konstatiert zutreffend die durch Büchner »bewußt und mit Absicht« hergestellte Einheit von »Wiege, Schoß und Grab«.[6] Allerdings steht dahinter weniger das Konzept einer »maßlosen Verherrlichung der Liebe«, [7] sondern vielmehr das eines Kreislaufs von Geburt und Tod. Prototypisch für die Fehlinterpretation Reinhold Grimms ist die lakonische Kategorisierung des ersten Selbstmordes in Dantons Tod als »Dummejungenstreich«.[8] In einem ähnlich oberflächlichen Tenor handelt Inge Rippmann den Suizid des enttäuschten Liebhabers in ihrem Artikel in dem Band Erotik und Sexualität im Vormärz[9] entgegen dem Titel Die ersäuften Liebhaber in einer Fußnote als »Kurzschlußreaktion«[10] ab. Eine adäquate Beachtung der Aussage des jungen Menschen
»er hätte fast einen dummen Streich gemacht, ich solle mein Kleid nur behalten und es brauchen, es würde sich schon von selbst abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit verderben, es wär doch das Einzige, was ich hätte.« (I,5)[11]
kurz nach dem gerade noch unterdrückten Tötungsimpuls gegen die untreue Geliebte kommt dagegen nicht an der Feststellung vorbei, dass der sich anschließende Selbstmord auf der kalkulierten Umkehrung der Sequenz von Zeugung, Geburt und Tod beruht.
Dem zugrunde liegenden Algorithmus gebührt einige Aufmerksamkeit, denn in ihm verbirgt sich der Quellcode des dramatischen Ablaufs in Dantons Tod. Der Tod des jungen Menschen, der, wie Grimm anführt, »lediglich mittelbar und zudem ausgesprochen stimmungshaft geschildert wird«,[12] manifestiert musterhaft die Dantonsche Programmatik der Identität von Schoß und Grab. Die feuchten Locken und die bleiche, mondbeschienene Stirn, die vorauslaufenden Kinder, der Korb, der unter dem Fenster vorbeigetragen wird, symbolisieren neugeborenes Leben. Danach erst folgt das: »er hatte sich ersäuft«, was bei einer Geliebten, die sich mit einem verschlingenden Meer vergleicht, unterschwellig transzendente Erfüllung suggeriert. Entsprechend der Gleichung Schoß = Grab bzw. deren Umkehrung Grab = Schoß symbolisiert das Ersäufen letztendlich die zeitenthobene Vereinigung des Liebhabers mit seiner Melusine in einer umfassenderen Dimension des Feuchten. Die Metaphorisierung von Julies Selbstmord gehorcht dem gleichen, hier noch deutlicher in Erscheinung tretenden Konzept. Der Tod wird mit dem kosmischen Bild des Laufs der Erde um die Sonne verglichen, und auch das Meersymbol begegnet dem Publikum in der »Fluth des Aethers« wieder. Die Analogie von Tod, Sonnenuntergang, Abend sowie Schlaf impliziert die von Wiedergeburt, Sonnenaufgang, Morgen und Erwachen:
»Die Sonne ist hinunter. Der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch jezt ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. Wie schön das Abendlicht ihr um Stirn und Wangen spielt. Stets bleicher und bleicher wird sie, wie eine Leiche treibt sie abwärts in der Fluth des Aethers; will denn kein Arm sie bey den goldnen Locken fassen und aus dem Strom sie ziehen und sie begraben? Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, daß kein Hauch, kein Seufzer sie aus dem Schlummer wecke. Schlafe, schlafe.« (IV,6)
[1] Reinhold Grimm: Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. In: GB I/II, S. 299–326. Grimms Zusammenstellung wurde um den potentiellen Selbstmord von Danton »ich liebe dich wie das Grab« (I,1), »Ich kokettire mit dem Tod« (II,4) usw. und Lenz’ Selbstmordversuch ergänzt.
[2] Ebd., S. 304.
[3] Ebd., S. 318.
[4] Ebd., S. 312.
[5] Ebd., S. 313.
[6] Ebd., S. 304.
[7] Ebd., S. 306.
[8] Ebd., S. 311.
[9] Inge Rippmann: Die ersäuften Liebhaber. Zu einem Motiv zweier Werke aus dem Jahre 1835. In: Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 1999. »Emanzipation des Fleisches«. Erotik und Sexualität im Vormärz. Bielefeld 1999, S. 37–65.
[10] Ebd., S. 57, Anm. 46.
[11] Georg Büchner: Danton’s Tod. MBA 3.2. Darmstadt 2000, S. 19.
[12] Grimm (s. Anm. 1), S. 308.
(Der vollständige Text ist im Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005-2008) nachzulesen oder auf KDP für 2,99 €