Fiasko Woyzeck-Literaturdidaktik
Fiasko Literaturdidaktik
Roland Borgards‘ Interpretation von Georg Büchners Woyzeck bei Schroedel auf dem Prüfstand
Dem von Roland Borgards, Professor für Literaturwissenschaft an der Goethe Universität in Frankfurt am Main und Leiter der Forschungsstelle Georg Büchner an der Marburger Universität, als „Vorbereitung auf Referate, Hausarbeiten, Klausuren und Prüfungen“ verfasste Band 8 der Reihe „Darstellungen und Deutungen von wichtigen Werken der deutschen Literatur“ bei Schroedel Interpretationen kommt der schätzenswerte Vorzug zu, Grundregeln der Textanalyse und Interpretation in Erinnerung zu rufen, gegen die die im Folgenden unter die Lupe genommene Lektürehilfe systematisch verstößt. Gleichzeitig bietet sich damit die Gelegenheit, dem allgemein üblichen Missverständnis von Georg Büchners Werk einige unumgängliche Richtigstellungen entgegenzusetzen.
Zwangsjacke Fremdtexte statt ästhetischer Autonomie.
Wenn Interpretation von Lyrik im Schulunterricht seit Enzensbergers Philippika im „Tintenfisch“ 11 („Getrampel von Hornochsen“) einen schlechten Ruf hat, den die akademische Literaturwissenschaft zum willkommenen, aber kaum benötigten Anlass nimmt, der Hermeneutik überhaupt den Garaus zu machen, dann wird die von dem Bildungshaus Schulbuchverlage Westermann, Diesterweg u. Co. verantwortete Literaturdidaktik des Woyzeck dem von Enzensberger beschriebenen Fiasko nunmehr auch im Hinblick auf Dramen voll und ganz gerecht. Mit nicht zu überbietender Überheblichkeit setzt der Autor die Vermittlung von Schulstoff dazu ein, den eigentlichen Lerngegenstand, Georg Büchners nachgelassenes Dramenfragment bzw. dessen Bearbeitung zu Lese- und Bühnenfassungen, durch Zusätze von Fremdtexten (Militär, Ökonomie, Sexualität, Zurechnungsfähigkeit, Menschenexperiment), die praktisch die gesamte ‚Interpretation‘ auch jenseits der soeben aufgezählten Unterabschnitte durchziehen und dominieren, zu entstellen um damit zwei Ziele zu erreichen: Erstens Inhalt und Form des eigentlichen Werks zu verstellen und zweitens dem Woyzeck im Sinne des gegenwärtig gesellschaftlichen Konsenses als „Musterbeispiel eines sozialen Dramas“ (52) eine Zwangsjacke zu verpassen, die hier zudem noch tendenziell akademisch zugeschnitten ist. Beizeiten werden die Lernenden darauf getrimmt, Literatur aus heteronomer Perspektive zu lesen. Mit dem Schulbetrieb geht das insofern konform, als dass man den Lernstoff beliebig durch textuelle Vorgaben inflationär ausweitet, die zwar nichts mit dem literarischen Gegenstand zu tun haben, dafür aber präzise festgelegt sind und sich deswegen eindeutig lehren und exakt messbar abprüfen lassen.
Einhausung der Quelle
Die „Einführung“ von Borgards‘ Woyzeck-Interpretation beginnt nicht, wie man erwarten sollte, mit dem literarischem Rang des Dramenfragments, sondern mit einer geradezu verstörenden Verschränkung der Biografien des historischen Woyzeck und des Autors:
„Leipzig, 2. Juni 1821, 21:30 Uhr: Der arbeits- und obdachlose Johann Christian Woyzeck ermordet mit sieben Stichen einer abgebrochenen Degenklinge seine Geliebte Johanna Christiane Woost […]
Zürich, 19. Februar 1837, 15:30 Uhr: Der politische Flüchtling, Literat und Universitätsdozent der Zoologie Georg Büchner stirbt an Typhus.“ (beides auf Seite 5)
Die Literaturanalyse bezeichnet ein solches Manöver, das oberflächlich gesehen Informationen vermittelt, tatsächlich aber selbst literarisch, wenngleich sinnfrei, operiert, als Funktionalisierung. Unschwer ist zu erschließen, was der Autor bezweckt: das literarische Werk als Ausfluss der Quelle, als maximale didaktische Einstimmung, Büchners Woyzeck als Kommentar zu einer zeitgenössischen rechtspsychiatrischen Debatte (80) misszuverstehen.
In mehreren Schritten erfolgt die didaktische Fehlsteuerung:
„Aus dem realen Kriminalfall hat Büchner für sein Drama vieles übernommen.“ (6)
Real mehrere Quellen zeitgenössischer Kriminalfälle werden fälschlicherweise zu einer reduziert und axiomatisch als Bezugspunkt gesetzt.
„Doch er nutzt auch die Freiheit der Fiktion, verschiebt Akzente, erfindet neue Figuren, neue Details“
Was wie das Einräumen von begrenzter kreativer Freiheit erscheint (und dabei den Freiheitsbegriff aufhebt), dient tatsächlich der Überbrückung des zwangsläufigen Abstands einer sich verselbstständigenden Interpretation vom Original.
„und taucht damit den Fall in ein neues Licht.“
Damit steht nurmehr ein spezieller historischer Fall im Fokus: der des Namensgebers der männlichen Hauptfigur. Das vermeintlich „neue“ Licht entpuppt sich als das alte, nämlich als das einer vorläufigen zeitgenössischen Debatte:
„War Woyzeck tatsächlich zurechnungsfähig? Kann man über Woyzeck auch anders reden, als der Gerichtsarzt Clarus es tat?“
Die nächste Frage
„Was will ein literarischer Text im Unterschied zu einem psychologischen Gutachten oder einem juristischen Urteil?“
stellt eine Scheinfrage dar, denn man kann nicht herausfinden, was ein spezieller literarischer Text will (außer dem allgemeinen Zweck, zu unterhalten, der hier aber konterkariert wird) wenn man ihn als solchen gar nicht gelten lässt, weil man ihm axiomatisch historische Diskurse überstülpt.
Hermeneutische Selbstdemontage: „Körpertheater“ statt Textanalyse
Mit einer gewissen Logik kommt Borgards erst auf den letzten Seiten in Kapitel VI auf dem Umweg, über den empirischen Erfolg, implizit auf den literarischen Rang des Dramenfragments zu sprechen: Büchners Woyzeck sei eines der meistgespielten Theaterstücke der deutschen Literatur. Das nun aber gerade nicht wegen seiner literarischen Qualität. Nach 115 Seiten ‚Interpretation‘, die Büchners Woyzeck partout als „Manifest gegen die Justiz und Psychiatrie seiner Zeit“ (78) lesen will und dazu immer wieder „zunächst einen kurzen Blick auf die Debatte selbst“ (66, 78), d.h. abseitige Texte, werfen muss und so gut wie nichts von dem literarischen Text selbst erfasst, eröffnet uns Schroedels Lernhilfe in unfreiwilliger Selbstoffenbarung, als auch Selbstdemontage:
Seinen Stellenwert für die Theatergeschichte verdankt das Stück dabei auch der herausragenden Rolle, die ihn ihm die Körperlichkeit spielt. Büchners Woyzeck ist in einem starken Sinn Körpertheater und steht damit der Performance-Kunst des 20. Jahrhunderts nahe. Vielleicht kann man dieses Stück tatsächlich nur begreifen, wenn man es sieht, und nicht, wenn man es lediglich liest. Deshalb ist Woyzeck ein beispielhaftes Stück für die Bühne. An ihm zeigt sich, was Theater kann.(120)
Aus dem Mund des Leiters eines Schultheaterkurses wäre das immer noch ein Zirkelschluss, aber wenigstens kein Kategorienfehler.
Entwertung des zu interpretierenden Texts
Ein analog schwergewichtiger Kategorienfehler wurde dem Schüler bereits relativ am Anfang zugemutet:
Alles, was wir von der Entstehungsgeschichte des Dramas wissen, müssen wir also aus indirekten Aussagen und chemischen Papier- und Tintenanalysen erschließen. Genaues und Verlässliches ist uns nicht bekannt. Und doch gilt gleichzeitig, dass alles, was wir überhaupt von dem Drama wissen können, ausschließlich seine Entstehungsgeschichte ist. Dies liegt daran, dass es ein fertiges, vollendetes und autorisiertes Drama namens Woyzeck nicht gibt. Was wir heute haben, das ist ein Haufen äußerst schwer lesbarer Handschriften, insgesamt 46 Seiten in sehr mitgenommenen Zustand […] Erhalten ist vom Woyzeck also nicht das fertige Produkt, erhalten sind ausschließlich die Spuren seiner Produktion. Woyzeck ist ein work in progress, ein noch unabgeschlossener Arbeitsprozess, der vom Tod – gewissermaßen an einem zufälligen Zeitpunkt – unterbrochen worden ist.“ (25f.)
Das interessiert die Editionsphilologie, nicht Schüler, die eine bearbeitete Lesefassung vor sich haben. Aber auch hier ist der Zweck klar: die Relativierung bzw. Entwertung des literarischen Textes.
Kontra: Rehabilitation
Die Flucht durch den hermeneutischen Hinterausgang des „Körpertheaters“ führt in die Sackgasse. Denn eine Handlung, in der unvermittelt Narren und eine märchenerzählende Großmutter auftreten, ein Bühnenspektakel, in der ein kleines Kind maßgeblich in die Handlung eingreift, in dem ein mit einem Professor identifiziertes Pferd, ein Handwerksbursche und die männliche Hauptfigur auf die Bühne urinieren und in dem relativ selbstständig wirkende Szenen mehr oder weniger lose aneinandergereiht scheinen (und nur durch eine auch von Borgards im Abschnitt „offene und geschlossene Form im Drama“ auf Seite 41 gewürdigte metaphorische Verklammerung zusammengehalten werden, das jedenfalls behaupten die Vertreter der „offenen Form“), könnte für sich eher in Anspruch nehmen, was Schiller in einer unveröffentlichten Vorrede über seine Räuber sagt, dass ein Autor nämlich eine Geschichte dramatisch abhandeln könne, ohne darum ein Drama schreiben zu wollen. Anders ausgedrückt, nimmt ein Verfasser sich gegebenenfalls die Freiheit, bühnenpraktische Aspekte, das sogenannte Körpertheater, außer Acht zu lassen.
Solche Überlegungen, und auch die, dass im Woyzeck letztendlich massiv, aber mehr oder weniger verdeckt über Sexualität geredet wird, lassen den Punkt ‚Körperlichkeit‘ nicht nur im Hinblick auf das Theater zur Büchnerzeit etwas heikel erscheinen: Wenn der Nebentext in der 12. Szene der Lese- und Bühnenfassung von „Tanzen“ spricht, so hört das Publikum mit Maries „immer zu, immer zu“ keine Verbalisierung beispielsweise eines Reigens, sondern exakt das, was Woyzeck in einer Art ‚Botenbericht’ als Unzucht und Übereinanderwälzen von Mann und Weib sieht. Für die Analyse von Diskrepanzen innerhalb eines literarischen Textes stehen klassische Werkzeuge wie Allegorese und Symboldeutung zur Verfügung, die schon deswegen bei Schroedel nicht zum Einsatz kommen, weil man dort dem originalen Text so weit wie möglich aus dem Weg geht.
In der ‚Inhaltsangabe‘ in Kapitel II , 12. Szene erhalten wir auf Seite 34 folgende Zusammenfassung:
Aus dem Wirtshaus tönt Tanzmusik. Woyzeck stell sich ans Fenster und sieht Marie mit dem Tambourmajor vorbeitanzen. Er gerät in heftige Erregung, die zwischen Zorn und Verzweiflung schwankt.
Bei Büchner liest sich das folgendermaßen:
Woyzeck stellt sich ans Fenster. Marie und der Tambourmajor tanzen vorbei, ohne ihn zu bemerken. MARIE im Vorbeitanzen: Immer zu, immer zu. WOYZECK erstickt: Immer zu! – immer zu! (fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank.) immer zu, immer zu, (schlägt die Hände ineinander) dreht euch, wälzt euch. Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, dass alles in Unzucht sich übereinanderwälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh. Tut’s einem auf den Händen, wie die Mücken. - Weib. – Das Weib ist heiß, heiß! – immer zu, immer zu. (Fährt auf.) Der Kerl! Wie er an ihr herumtappt, an ihrem Leib, er hat sie wie ich zu Anfang!
Eine sachgerechte Inhaltsangabe hätte in etwa folgendes zu vermitteln:
Was Woyzeck in der Dramenexposition in dunkler und möglicherweise teilweise verdeckter Rede und durch den Gesang seines Kameraden Andres angeregt, an den Horizont der „Stadt in der Ferne“ projiziert, den Untergang von Sodom und Gomorrha, und was die in der nächsten Szene gegenseitigen Bezichtigungen der Nachbarinnen Marie und Margreth als „Huren“ implizit bestätigen, das nimmt in der dramaturgisch zentralen Wirtshausszene Gestalt an. Nachdem Woyzeck, wiederum durch Andres‘ Singen provoziert, eigenmächtig (und ohne nachteilige Folgen) die Kaserne verlässt, steht er nun vor einem Wirtshaus, das nicht nur seinen ‚Botenbericht‘ darüber, dass Mensch und Vieh sodomitische Unzucht ausüben, als Bordell erweist, sondern selbst das Publikum hört Maries Ausstoßen der Worte „immer zu, immer zu“. Woyzeck bleibt außen vor dem Wirtshaus und beobachtet die Szene durch das Fenster. Seine einzige Reaktion besteht darin, dass er von der Bank heftig auffährt, wieder zurücksinkt und die Hände ineinander schlägt. Er beschwert sich darüber, dass sich das Treiben „am hellen Tag“ vollzieht und unterstreicht diesen Vorwurf damit, dass er es mit auf den Händen treibenden Mücken vergleicht. Woyzeck beobachtet die Berührungen von Maries Partner und erinnert sich daran, dass er Marie zu Anfang hatte.
Die Schroedel-Interpretation handelt Sexualität unter dem 3. Abschnitt „Gehalt“ als vierten Punkt zeitgenössische Sachbezüge nach einem Eingehen auf den historischen Fall (66–69), „Militär“ (68–71), „Ökonomie“ (71–74) auf den Seiten 74–77 ab, anschließen folgen noch „Zurechnungsfähigkeit“ (78–86) und „Menschenexperiment“ (87–92). In allen diesen Abschnitten geht es nicht um die Analyse konkreter dichterischer Inhalte und Sprache, (insbesondere wären die auffallenden Diskrepanzen innerhalb des Textes zu nennen, die in der genannten Szene praktisch zwei verschiedene Handlungen übereinander blenden), sondern es werden abstrakte Inhaltszusammenfassungen unter „das auf Woyzeck einwirkende Netz von Zwängen“ (92) subsumiert, die überhaupt erst aus den zahlreichen Zusatztexten abgeleitet [CM1] .
Nur der literarische Text strahlt Wirkung aus
Allgemein gilt für so gut wie alle Woyzeck-Interpretationen, dass deren Abstraktionsebene dem Dramentext nicht adäquat ist, weil sie von außen und mithilfe fremder Texte zustande kommt und nicht aus dem Text selbst abgeleitet wird. Beispielsweise wäre in Bezug auf die oben wiedergegebene Szene danach zu fragen, wie sie auf das Publikum wirkt und durch welche Mittel der Autor diese Wirkung erreicht. Sehen wir tatsächlich einen Soldaten realistisch dargestellt? Wenn nicht, wen dann? In vielen Szenen wird gesungen. Welche Funktion hat der Gesang im Hinblick auf Szene und Publikum? Wenn wir die Aufmerksamkeit auf den durchgängigen Eindruck der Wehrlosigkeit richten, den die Hauptfigur auf uns ausstrahlt, eine der nachhaltigsten Wirkungen des Stücks, dann ergeben sich daraus zentrale Untersuchungsgegenstände. In welchem Kontext zeigt uns der Autor diese Ohnmacht? Wo und wie wird sie durchbrochen? Wo enthalten Handlung und Figurencharakteristik Leerstellen? Sind diese bedeutsam? Beispielsweise darf der Täter nach seiner Tat ins ‚Wirtshaus‘ das sich dann offen als Bordell zu erkennen gibt. Eine markante Leerstelle, der Familienname des weiblichen Opfers wird dem Publikum nur durch die Stimme aus dem Boden mitgeteilt. Hat das eine dramaturgische Funktion? Versteckt Büchner damit den bewusstseinsmäßigen Zugriff auf den Grund für Woyzecks prekäre psychische Situation?
Literatur sorgt für Spannung zwischen Emotion und Bewusstsein und reproduziert damit eine Struktur, die zum Anthropologischen gehört, wie das aufrechte Gehen. Gleichzeitig erzeugt und speichert diese Polarität psychische Energie, die sinnvoll eingesetzt werden kann oder aber auch in einer Art Kurzschluss ex- oder implodiert. Der verstorbene „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki hat in einem Fernsehinterview das Bonmot geäußert, Literatur, die etwas tauge, habe einen doppelten Boden. Er ergänzt: „Warum sonst erzählen?“ Literatur, die auf uns passt, macht uns Vergnügen, weil sie mit Spannung und Entspannung spielt und gleichzeitig auf der emotionalen Ebene und der des Bewusstseins hilft, kulturelle Steuerungsmechanismen für den Umgang mit der Polarität von Bewusstsein und Unbewusstem bereitzustellen und weiterzuentwickeln. Interpretation nennt man den Prozess, der von der Bewusstseinsseite aus den „doppelten Boden“ beschreibt und sozusagen ausmisst, jedenfalls soweit das möglich ist. „Begreifen, was uns ergreift“ lautet die eingängige Formel Emil Staigers, ein zugegebenermaßen komplexes Unterfangen, vor allem auch deswegen, weil sie ein ästhetisches Feingefühl verlangt, dass in der akademischen Ausbildung nicht vorausgesetzt wird und wenn es vorhanden sein sollte, Gefahr läuft, während des Studiums auf der Strecke zu bleiben.
Ein Theaterbesucher will mehr oder weniger anspruchsvoll unterhalten werden und zahlt dafür Eintritt. Er macht vorher keine Hausaufgaben. Er denkt nicht daran, -zig Seiten zu lesen, um sich vorzubereiten. Er wird ein Werk danach beurteilen, was er in den eineinhalb Stunden sieht und hört. Und selbstverständlich weiß das der Verfasser. Ein Stück im 18. und 19. Jahrhundert hat sich zunächst sprachlich bewähren, bevor es die Chance bekommt, auf der Bühne gezeigt zu werden. Davon auszugehen, dass ein Autor absichtlich einen Text verfasst, den man „tatsächlich nur begreifen [kann], wenn man ihn sieht und nicht, wenn man ihn lediglich liest“ würde besagen, dass dem Autor das Werk misslungen ist und er fremder Hilfe bedarf, um den Adressaten zu erreichen. Es würde besagen, dass ein Werk unvollkommen ist und das widerspricht dem allgemein anerkannten Status des Woyzeck. Eine Argumentation, ein Stück werde deswegen so oft aufgeführt, weil es so bedürftig sei und dem Theater deswegen die Chance einräume, es durch „Körpertheater“ zu verbessern, dokumentiert intellektuelle Hilflosigkeit. Analoges gilt für die durchgängige Praxis, den originalen Text durch weitläufige Zusätze zu ‚verbessern‘. Das zerschießt gleichsam die literarische Form des Dramas, sein Eigentliches.
Inkompatibler übergestülpter Sinnzusammenhang
Wenn man, wie die Schroedel-Lernhilfe, meint, Büchners Drama beziehe „als Gegengutachten“, als „Revisionsrichter“ oder als „Medialisierungskritiker“, d.h. als Kritiker einer rechtspsychologisch operierenden „Medienmaschine“ (80–83) Stellung zur Rechtspsychiatrie eines historischen Falles und man deswegen zunächst einen Blick auf die Debatte selbst werfen müsse, „um Büchners Beitrag zur Debatte einschätzen zu können“, dann belegt man damit ein grundlegendes Unverständnis für das Wesen von Kunst und Literatur und man handelt sich damit ein Problem ein. Denn Borgards kann nicht umhin, zu konstatieren, dass eine von Büchners „markante[n] Änderungen“, die er gegenüber dem historischen Fall vornehme, darin bestehe, dass er sich nur für den Fall bis zum Mord interessiere und die juristische Nachgeschichte hingegen nur ganz knapp andeute. (69) Im Klartext: Interpretationsansatz und literarischer Text sind inkompatibel.
Autonomer Mordkomplex vs. Rechtsdrama
Georg Büchner handelt den abgeschlossenen Mordkomplex im ersten Handschriftenentwurf ab. Er umfasst bei enger Auslegung sieben von einundzwanzig Szenen, d.h. mindestens ein Drittel der Handlung. Das Problem für das ‚Sozialdrama‘ wird verschärft durch die Tatsache, dass ein weiteres Drittel des Textes das Motiv der Besessenheit beinhaltet, das mit der Mordhandlung in einem unmittelbaren Zusammenhang steht, während das letzte Drittel einen satirischen Buden- und Wirtshauskomplex betrifft, der in der ersten Entwurfsstufe noch keinen Konnex mit der übrigen Handlung aufweist. Wenn die Schroedel-Interpretation in Abschnitt II „Inhaltsangabe“ auf Seite 29 zusammenfasst:
Die erste Handschriftenfolge (H1) skizziert ein Eifersuchtsdrama: Ein Soldat namens Louis ermordet aus Eifersucht seine Geliebte Margreth.
dann fällt diese Beschreibung in mehrfacher Hinsicht vereinfachend aus. Büchner gelingt es nämlich zunächst nicht, die Eifersucht zu motivieren. Es gibt in H1 keinen feschen Tambourmajor, keine goldenen Ohrringe, kein Tête à tête mit Marie, keinen Ringen des Tambourmajors mit dem Soldaten, nicht die mindeste Plausibilisierung eines militärischen Kontextes, kein Befehl und Gehorsam, keinen Hauptmann, keinen militärischen Drill, keine Zusatzdienste, kein Stöckeschneiden im Gebüsch und auch kein Ernährungsexperiment. Mordkomplex plus Besessenheit stehen gleichsam monolithisch auf der Bühne. Schon die quantitative Analyse legt nahe, was die qualitative erweist, dass der Autor keinen schnell ausgeführten Mord im Affekt abhandelt, sondern eine rituelle Hinrichtung mit allem Drum und Dran, nicht zuletzt einigen Kindern und einer Anklageverlesung im Märchenduktus. Die vermeintliche „knappe Andeutung der juristischen Nachgeschichte“ liest sich im Original wie folgt:
GERICHTSDIENER. BABIER. ARZT. RICHTER. POL. Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann wir haben schon lange so kein gehabt.
Selbstverständlich gehörte es sich für eine Interpretation, zu untersuchen, wie der obige Zynismus zu deuten ist. Dazu müsste man das literarische Werk als solches ernst nehmen, schon auch deswegen übrigens, weil der Mordkomplex des ersten Handschriftenentwurfs, wie auch die Besessenheit, unverändert in die nachträglichen Bearbeitungen des Dramenfragments zu Lese- und Bühnenfassungen eingehen. Ein Syllogismus hätte folgendermaßen vorzugehen.
- Der Mordkomplex der Urfassung ist dramaturgisch autonom.
- Die Lese- und Bühnenfassung enthält den Mordkomplex der Urfassung unverändert.
- In der Lese- und Bühnenfassung ist der Mordkomplex dramaturgisch autonom.
Borgards‘ ‚Interpretation‘ beharrt auf dem Postulat, Büchners Woyzeck sei ein Rechtsdrama.
Das dichterische Interesse gilt der mehrfach geänderten Dramenexposition und der Plausibilisierung des Mordkomplexes
Nun zeigt aber die Entfaltung des work in progress, dass Büchner aus unschwer zu erschließenden Gründen an der Schwelle zum Gerichtsdrama abbricht und im Anschluss an die erste Entwurfsstufe zwei Mal mit der Überarbeitung der Exposition ansetzt. Die zweite Entwurfsstufe endet noch weiter vor der „juristischen Nachgeschichte“ als die erste. Die Hauptfassung befasst sich zum dritten Mal mit der Exposition. Ganz offensichtlich hat der Autor Probleme mit der Dramaturgie vor dem Mordkomplex und ist an der Weiterführung der Handlung in Richtung Gerichtsdrama nicht interessiert. Die Gründe dafür ließen sich aus dem Fragment entnehmen und es stünde der Literaturwissenschaft als auch der Wissenschaftspropädeutik gut an, diesbezüglich nachzuhaken. Dabei käme in etwa folgendes heraus: Büchners Stoff besteht, außer aus einer selbstständigen Universitätssatire (Jahrmarktsszenen) im ersten Handschriftenentwurf, nur aus eifersüchtiger Besessenheit, die linear auf den Mordkomplex zusteuert. Diese drei Elemente Satire, Besessenheit und Mordkomplex werden auch in die Reinschrift der Hauptfassung (vierter Handschriftenentwurf, H4) übernommen. Was fehlt, ist ein brauchbarer Anfang und die Ausgestaltung der männlichen und der weiblichen Hauptfigur. Aus der Entfaltung der Woyzeck-Handlung geht unzweideutig hervor, dass der Autor an der Plausibilisierung der handelnden Figuren im Zusammenhang mit einem überpräsenten Mordkomplex arbeitet, der als Beziehungskonflikt angelegt, aber als solcher im ersten Handschriftenentwurf kaum sichtbar ist. Ein männlicher Täter Louis, von dem wir nichts weiter erfahren, als dass er ein Soldat ohne Eigenschaften, Alter usw. ist, ersticht sein genauso wenig konturiertes Opfer Margreth. Auch ihr Alter und Charaktereigenschaften bleiben in der ersten Entwurfsstufe im Dunkeln. Sie ist auch noch nicht Mutter. Stattdessen gibt es eine merkwürdige Anspielung auf die Hinrichtung von Goethes Gretchen im Faust I.
Was nicht passt, wird passend gemacht
Die Schroedel- Interpretation handelt sich, statt sich den Herausforderungen des Textes zu widmen, hausgemachte Probleme ein:
Büchners Woyzeck ist ein Rechtsdrama aber kein Gerichtsdrama. Auf den ersten Blick könne es scheinen, als würde Büchner damit die Möglichkeit einer Kritik am Rechtssystem verspielen. Denn in der Darstellung einer Gerichtsverhandlung ließe sich ja leicht die staatliche Strafgewalt als tragischer Irrtum darstellen, die Hinrichtung als Justizmord – ein Vorwurf, der im historischen Fall von einigen Juristen tatsächlich erhoben wurde. Mehr noch: Es ließe sich zeigen, inwiefern Mord und Hinrichtung miteinander verwandte Handlungen sind, zwei Gewaltakte, die beide unterschiedslos auf die Tötung eines Menschen zielen. Büchner verzichtet auf diese Möglichkeit einer direkten Justizkritik. Doch was auf den ersten Blick wie eine verschenkte Gelegenheit wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Strategie der Kritikverschärfung. (69)
Irreführende Literaturdidaktik wäre indes wirkungslos, wenn der Woyzeck adäquat rezipiert würde, in Form der Handschriftenentwürfe oder als Lese- und Bühnenfassung. Im sorgfältigen Lesen besteht auch das Therapeutikum. Dazu bedarf es philologischer Unterstützung und hermeneutischer Hilfestellung.
Das, worauf Borgards‘ vermeintliche „Kritikverschärfung“ abhebt, die Abrichtung des Täters aufs Töten durch das Soldatentum, stellt erstens eine an den Haaren herbeigezogene Simplifizierung dar und wird zweitens durch die Handlung konterkariert. Werner Herzogs Woyzeck-Film muss ‚Kommandieren‘ und ‚Exerzieren‘ daher ergänzen, dafür streicht er dramaturgisch zentrale Passagen.
Literaturdidaktiken wie die von Schroedel fungieren in der Regel als Lese- bzw. Literaturersatz, sie verleiten dazu, sich das kompetente Lesen zu ersparen; was auch für Hans C. Blumenberg gelten dürfte, der in seiner Rezension des mit typisch entstellenden Streichungen und Zusätzen versehenen Herzog-Films in der ZEIT 23/1979 allen Ernstes schreibt, Herzogs Woyzeck folge dem Büchners „unendlich genau“.
Übrigens zeigt sich auch im Hinblick auf das Thema Militär Borgards‘ irritierende Widersprüchlichkeit. Einerseits lesen wir, für Woyzeck gebe es kein Außerhalb des Militärdienstes, er sei immer und überall auch Soldat. (71) Einige Seiten später heißt es in einer der „exemplarischen Interpretationen“:
Woyzeck exerziert nicht, er rasiert; er handelt nicht als Soldat, sondern als Barbier, als Friseur. Kaum also ist mit den Figurenbezeichnungen ein militärisches Verhältnis aufgerufen worden, wird es von der nun folgenden Handlung wieder fallen gelassen. In der ganzen Szene bleibt das Militär nur durch ein einziges Wort präsent: durch das Wort >Hauptmann< […] Die Szene bekommt damit die Anmutung einer doppelt belichteten Photographie, in der Soldat und Barbier, Hauptmann und Kunde ineinander verschwimmen. (95f.)
Fast im gleichen Atemzug erweist Borgards dann aber seiner scholastischen Prämisse: „Musterbeispiel für das Genre des sozialen Dramas“, (52) die Reverenz. Anstatt nach einer generellen Form von Ambivalenzen im Dramenfragment und deren inhaltlicher und formaler Funktion zu fragen, schwenkt er umgehend wieder auf seinen Dogmatismus ein:
Das Verhältnis von Woyzeck zu seinem Hauptmann erweist sich insofern als charakteristisch für Woyzecks Stellung in der Welt. Er untersteht nicht nur einer Anforderung; er untersteht vielmehr mehreren Anforderungen zugleich. (96)
Inwiefern ein „fallen gelassenes“ militärisches Verhältnis eine „Anforderung“ darstellt, die ein „vielfach bestimmtes, ein überdeterminiertes Subjekt“ ausmacht, bleibt das Geheimnis des interpretierenden Literaturwissenschaftlers. Allerdings braucht er die vermeintliche militärische Fremdbestimmtheit, um den Mord zu erklären:
Das Militär wird sehr eng, fast im Sinne eines Ursachenzusammenhangs, mit dem Mord verknüpft. Dem Militärdienst kommt so eine Mitschuld an dem Mord zu, denn Woyzeck wird durch das Militär >physisch und psychisch verstümmelt und zugrundegerichtet<. (71)
Man fragt sich, welchem Text diese ‚Interpretation‘ gilt. Büchners mit Sicherheit nicht.
Der eigentliche, von der Schulinterpretation unbemerkte, rote Faden
Worauf Borgards in seiner exemplarischen Interpretation des Verhältnisses von Woyzeck und dem Hauptmann prinzipiell nicht eingeht, ist der rote Faden des Dramenfragments: die in der ursprünglichen Dramenexposition der Jahrmarktsszenen veranschaulichte Vermischung vom Viehigkeit und Vernunft. Zwar erwähnt er das körperliche Begehren des Hauptmanns, dem „die Liebe kommt“, wenn er die „weißen Strümpfe über die Gassen springen sieht“, aber der Hauptmann schaut nicht, wie Borgards meint, „den Frauen“ hinterher, denn die springen normalerweise nicht über die Gassen, sondern Kindern. (100) Dass Kinder tatsächlich gemeint sind, offenbart der Hauptmann unwillkürlich, als er bei Woyzecks Bibelzitat „Der Herr sprach: lasset die Kindlein zu mir kommen“ einen Sarkasmus heraushört, der ihn „ganz konfus“ macht. Hier ist Borgards zwar relativ nah am Text dran, aber nicht nah genug. Im entgeht die Pädophilie des Hauptmanns (99f.) und an anderer Stelle auch die des Doktors, dessen mehrfach lamentierende Beobachtung Woyzecks beim Urinieren auf die Straße den auktorial beabsichtigten Drall in Richtung des roten Fadens erst bekommt, wenn man aus der ursprünglichen Handwerksburschenszene im zweiten Handschriftenentwurf (dort handelt sie in einem Urinal, was kurioserweise sichtbar bleibt, wenn der Handwerksbursche in der Hauptfassung vom Tisch pisst) – in der nebenbei bemerkt das verkürzte Hasenlied der neuen Eingangsszene eine einschlägige Rolle spielt – die spezifische Bedeutung von „Nase“ und deren Kontext ableitet. Bei den Handwerksburschen wie auch beim Doktor geht es nicht um zeitgenössische „neurophysiologische Forschungen“ (64), wie Borgards in einer allerdings allgemein üblichen völligen Verkennung der Büchnerschen Sarkasmen meint, sondern unter die Gürtelinie. In der analogen Szene der vorläufigen zweiten Entwurfsstufe spricht der Hauptmann in ein und demselben Zusammenhang davon, dass er seinen Kopf gerade hinausstreckte zwischen zwei Blattläuse, die sich begatteten. Von solchen prekären Details wollen freilich selbst die Herausgeber der originalen Handschriftentwürfe in den gängigen Gesamtausgaben nichts wissen. Man muss schon eine Faksimile-Reproduktion wie die von Enrico de Angelis (bei Saur) und deren Transkription (82f.) bemühen um hinter die vermeintlich unlesbaren „+“ zu gelangen.
Zahn Ziehen
Es wird Zeit, dem ‚Sozialdrama‘ den Zahn des Ernährungsexperiments zu ziehen. Ganz davon abgesehen, dass die Urfassung (H1) ohne es auskommt, gleichwohl aber den Mordkomplex auskomponiert, bringt das Hinzuziehen historischer Daten im Hinblick auf das „Menschenexperiment“ tatsächlich einen Erkenntnisgewinn. Die entsprechenden Versuche hatten keineswegs das Ziel, die Probanden körperlich oder psychisch zu schädigen. Man wollte Soldaten möglichst effektiv und billig ernähren, aber selbstverständlich sollten darunter weder die Kampfkraft, geschweige denn Gesundheit überhaupt, leiden. Zudem waren körperlich oder psychisch labile Probanden per se ungeeignet. Ein Blick auf historische Gegebenheiten führt in diesem Fall also dazu, die Autonomie der literarischen Perspektive zu bestätigen. Woyzecks Zustand von Abhängigkeit, Wehrlosigkeit usw. ist intrinsisch, aus dem Stück heraus zu erklären, insbesondere ist dabei auf die Sprache zu achten. Alle Indizien weisen in eine diametral entgegengesetzte Richtung zu den gängigen Bemühungen, elaborierte Erklärungszusammenhänge mit Hilfe zusätzlicher Sachtexte zu konstruieren. Dabei sind beständig Ambivalenzen zu berücksichtigen und Linearität zu vermeiden. Intellektuell anspruchsvolle Satire wechselt im Dramenfragment mit Märchensprache und Infantilität, humoristisches Ausstellen von aufgeblasener Wichtigtuerei mit rührender Gegenwärtigkeit von Kinderseele. Beides findet sich in der Beziehung des Doktors zu Woyzeck.
Verpasste Fragen sind verpasste hermeneutische Chancen I
Wie dürftig Erklärungsversuche der Schroedel-Interpretation mangels kompetenten Lesens ausfallen, zeigen auch Borgards‘ Figurencharakteristiken von Marie und Woyzeck. Sie bestehen im Grunde genommen nur aus gesellschaftskritischen Binsenweisheiten, mit denen alle spannenden inhaltlichen Fragen kaschiert werden. Marie verhält sich einerseits wie „eine Gelegenheitsprostituierte“ (60), damit liegt die Schulinterpretation einmal durchaus richtig; dass es sich bei dem Wirtshaus, in dem Woyzeck in Szene 22 laut Borgards mit einer Frau „anbändelt“ (tatsächlich bezahlt er sie) um ein Bordell handelt (das zudem aus dem Liedgut, auch des Dramenfragments, als einschlägiges „Wirtshaus an der Lahn“ bekannt ist) lässt sich unschwer aus der Handlung und aus Andres‘ Gesang in der Wachtstube entnehmen. Marie weise Woyzeck zurück, lesen wir nun aber bei Schroedel, deswegen bringe Woyzeck Marie um. Mit der Frage eines cleveren Schülers, in welcher Szene genau Marie Woyzeck zurückweise, könnte man das Schulbuch in erhebliche Verlegenheit bringen. Wir sehen auf der Bühne, dass Woyzeck eifersüchtig ist, das ja. Aber in der gesamten Inhaltsangabe der 27 Szenen der Schroedel-Interpretation finden wir keine einzige Szene, in der Woyzeck Marie begehrt und zurückgewiesen wird. Warum auch sollte eine Prostituierte sich jemandem verweigern, der sie ernährt?
Tatsächlich gibt im zweiten Handschriftenentwurf einen Streit, in dem – hier noch Louisel – den eifersüchtigen und aggressiven Woyzeck so zurechtweist, dass man aus ihrer Reaktion indirekt auf eine sexuelle Zurückweisung schließen kann. Nur gibt es damit zwei Probleme. Erstens hat Bücher die Szene gestrichen, jedenfalls ist sie nicht in der von Borgards verwendeten Lese- und Bühnenfassung enthalten, steht also Schülern nicht zur Verfügung. Gravierender aber ist ihre dramaturgische Funktion. In wenigen Sätzen wird ein Beziehungskomplex angerissen, den Woyzeck mit der bekannten Bemerkung kommentiert, jeder Mensch sei ein Abgrund, es schwindele einem, wenn man hinabsehe. Was aber sieht er dort unten? Dazu muss man die Szene H2,8 des zweiten Handschriftenentwurfs betrachten, in der Louisel Woyzecks Begehren aus einem bestimmten Grund überhaupt erst, und zwar keineswegs plausibel, in seine Handlung hineininterpretiert:
Rühr mich an Franz! Ich hätte lieber ein Messer in den Leib, als dei Hand auf meiner! Mein Vater hat mich nicht anzugreifen gewagt, wie ich 10 Jahr alt war, wenn ich ihn ansah. (Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Poschmann, 200)
Dies ist die einzige Stelle im Dramenfragment, in der das Publikum den Ansatz eines biografischen Hintergrundes erfährt. Louisel deutet eine prekäre Vaterbeziehung an. Sie bannt Woyzeck, indem sie ihn mit ihrem Vater vergleicht und einer Berührung das Selbstopfer vorzieht. Was aber genau weist sie zurück? Seine Hand auf ihrer?
Unmittelbar vor dem Erstechen zeigt der Täter einen analogen erklärungsbedürftigen Skrupel.
Was du heiße Lippen hast! (heiß, heiß Hurenatem, und doch möchte‘ ich den Himmel geben, sie noch einmal zu küssen) […]
In der Inhaltsangabe begegnet uns die Passage in der 20. Szene wie folgt:
Marie versucht erneut, sich ihm zu entziehen. Woyzeck drängt sich daraufhin nur noch mehr an sie, spricht von ihren heißen Lippen, ihrem Hurenatem, macht dunkle Andeutungen, wird blass […] (36)
Was in der Schroedel-Interpretation als „dunkle Andeutung“ ausgegeben wird, ist tatsächlich die Beschreibung eines Tabus.
Regel
Unbestimmte Textteile, Leerstellen und Ambivalenzen sind hermeneutisch in Rechnung zu stellen, genauso wie jegliche Details.
Verpasste Fragen sind verpasste hermeneutische Chancen II
Die erste Frage, die zu stellen wäre lautet: Warum die Klammer um „heiß, heiß Hurenatem […]“? – Sie markiert Woyzecks Gedanken, einen kurzen inneren Monolog. Sein Opfer, Margreth, alias Louisel, alias Marie, ist eine Hure. Alles würde er dafür geben, sie noch einmal zu küssen. Man könnte Schüler nun dazu auffordern, nachzufragen. Meinetwegen wie ein Untersuchungsrichter, aber nicht um ein Rechtsdrama daraus zu machen, sondern um hinter das Motiv zu kommen. Ein zu allem entschlossener Mörder registriert plötzlich eine nicht zu überschreitende Grenze. Da muss sich eine Frage aufdrängen: „Warum küsst, im Klartext vergewaltigt, Louis, Woyzeck sein Opfer nicht? Sie ist total in seiner Gewalt. Was hält ihn davon ab?“
Woyzeck hat seine Marie dereinst geküsst, das geht aus dem „noch einmal“ hervor; jetzt darf er nicht mehr, jedenfalls nicht ohne den Himmel dafür zu geben. Von ‚früher‘ zu ‚jetzt‘ hat sich etwas verändert. Schüler werden nun zu spekulieren anfangen. Sie sind dazu angehalten, sich auf den Text zu beziehen: Wo veranschaulicht das Drama eine einschneidende Änderung, die den Preis für einen „Kuss“ in den Himmel treibt?
Kurzes Resümee und der wunde Punkt
Marie ist Einwohnerin einer sündigen Stadt, das demonstriert Woyzeck schon in der ersten Szene. Was er noch nicht weiß, wir aber sehen, ist, dass Marie sich selbst als Hure identifiziert und sich auch so verhält. Woyzeck kommt zu Marie, sieht aber sein Kind nicht an. In der Jahrmarktsbude geht es dann um die Vermischung von Viehigkeit und Vernunft – keine große Überraschung im Hinblick auf Sodom und Gomorrha. Woyzeck entdeckt Maries Ohrringe, ihm schwant etwas, aber er lenkt ein, er gibt ihr sogar Geld und zeigt Mitgefühl mit seinem Sohn. Auf der Gasse sehen wir Woyzeck zunächst eifersüchtig, doch er wahrt Zurückhaltung. Über Hauptmann und Doktor wurde bereits gesprochen, beide provozieren Woyzeck mit Bemerkungen über dessen Frau und ihre Tätigkeit „um die Ecke“, bei Büchner eine spezifische eigenartige Chiffre für Prostitution.
Plötzlich aber nimmt die Handlung eine dramatische Wendung. Für Woyzeck wird die Erde höllenheiß, ihm selbst eiskalt, die Hölle kalt. Etwas hat sich dramatisch zugespitzt. Borgards‘ Zusammenfassung besagt nur ganz allgemein (Szene 9), dass Woyzeck völlig außer sich gerät“ (34). Es lohnt sich, das im Detail zu betrachten, denn auch hier taucht wieder der ‚Himmel‘ auf.
Himmel und Erde, kurzer Exkurs
In der Märchenparabel der Großmutter wird das arme einsame Kind vom Himmel verführt und enttäuscht, so dass die Erde anschließend zu einem umgestürzten „Hafen“, (ein Nachttopf), im Klartext: durch ausgelaufenen Urin überschwemmt wird, wobei man wissen muss, dass Kinder die unteren Körperflüssigkeiten noch nicht unterscheiden können. (Borgards ganz knapp: „Das Märchen endet mit der unendlichen Einsamkeit des Kindes.“ 36)
Himmel, Woyzeck, Nachdenken
Am Ende der Szene mit Hauptmann und Doktor gerät Woyzeck nicht „völlig außer sich“, sondern in einen Zustand, der eine Frage von Leben und Tod aufwirft:
WOYZECK: Ich geh! Es ist viel möglich. Der Mensch! Es ist viel möglich. Wir haben schön Wetter, Herr Hauptmann. Sehn Sie, so ein schön, festen groben Himmel, man könnte Lust bekommen, ein Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hänge, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen ja und wieder ja – und nein, Herr, Herr Hauptmann ja und nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich will darüber nachdenke. […]
Die Figurencharakteristik der männlichen Hauptfigur in der Schroedel- Interpretation zeichnet den Protagonisten als fremdbestimmtes, determiniertes bis qualvoll überdeterminiertes Subjekt. (56ff.) Woyzecks Handlungen spiegelten den Kampf der sozialen und kulturellen Mächte. (58) Dass ein Woyzeck nachdenkt, passt nicht ins vorgegebene Schema. Dabei tut er das bereits in der ersten Szene im Hinblick auf den rollenden Kopf und den Igel. Nur fällt hier die Antwort „Freimaurer“ noch plakativ aus. In der nächsten Szene zitiert Woyzeck wörtlich die Bibel, Marie bezeichnet ihn als „vergeistert“ und spricht davon, dass er „überschnappt mit den Gedanken“. Später in Maris Kammer macht er sich Gedanken über sein Kind. Im Dialog mit dem Hauptmann denkt er über die Tugend und die Natur nach, die einem nur so kommt. Der Doktor moniert, dass Woyzeck wieder philosophiere. Tatsächlich unterscheidet Woyzeck Charakter und Natur, sogar „doppelte Natur“. Er spricht von einer fürchterlichen Stimme, die zu ihm geredet hat, fragt nach Figuren der Schwämme auf dem Boden und sagt: „Wer das lesen könnt.“ Sollte das als Aufforderung an das Publikum gerichtet sein?
Lesen, Nachdenken
Wenn in der Märchenparabel aus der Perspektive des Kindes die Erde zu körperlicher Ausscheidung, gleichsam flüssig wird, dann wird umgekehrt der Himmel aus Woyzecks Perspektive auf eine eigenartige Art und Weise fest. In der Urfassung im ersten Handschriftenentwurf, in Szene 8, sagt ein Unteroffizier (der Vorläufer des Tambourmajors) die Frau sei ein köstlich Weibsbild, sie habe Schenkel und alles so fest. – Woyzeck setzt seine Replik fort mit der Bemerkung: „man könnte Lust bekommen“. Da würde auch der Unteroffizier zustimmen. Was immer auch Woyzeck sich unter lustvollem „Kloben“ und „hineinschlagen“ vorstellt, wandelt sich indes plötzlich zu der Vorstellung, sich aufzuhängen. Die Ausstrahlung des Bildes ist enorm. Sie steigert sich noch einmal, wenn Woyzeck den Grund für die Selbstmordfantasie nennt; auf die undurchsichtige Mischung von Erregung und Grauen, auf eine sinnliche Herausforderung, die das natürliche Bedürfnis mit sich bringt, mittels haltgebender Vernunft zu verstehen, was hier vor sich geht, folgt der Absturz ins Nichts eines Gedankenstrichels, die Verkleinerung und Verniedlichung eines ohnedies schon winzigen Gegenstandes, eines Strichs zwischen zwei „ja“. Da kollabiert der Verstand, da kollabiert aber auch die Erwartung an sprachlichen Sinn. Welch eine Zumutung! Erst dieses starke Wort „Gedanken“, das einer dräuenden Verbindung: Mensch, Lust, Himmel, Kloben, Aufhängen entstammt, um dann zu einem Strich zu werden, einem sprachlichen Minimum, das schon kaum noch ein Zeichen darstellt, sondern nur den leeren Raum zwischen zwei Zeichen markiert, die uns dann als zwei „ja“ sozusagen vor den Kopf stoßen und dem Verstand als leere Affirmation eine Nase drehen. Da setzt einer an, wie ein Hamlet, um die Frage nach Sein oder Nichtsein aufzuwerfen, wobei wir ihm hingehen lassen, dass wir keine Geisterscheinung vorgeführt bekommen, sondern nur die künstlich hochgespielte Andeutung einer bereits bekannten, sich möglicherwiese vollziehenden sexuellen Handlung einer Hure, um dann sein täuschend fadenscheinig existenzielles Elend in einen Abgrund münden zu lassen, der sich als simples aber ziemliches Loch erweist. Der Sprache sind die Signifikate verlorengegangen, die Worte haben keinen Boden mehr unter den Füßen, wir sind in ja und ja und nein hinuntergepurzelt, die – ausgerechnet – auch noch nach Kausalität suchen. Das erschreckt mehr als ein leibhaftiger Geist auf der Bühne. Es hinterlässt einen blauen Fleck im Sprachzentrum des Gehirns und das macht uns eines klar: Was uns erschüttert, das wird nicht Maries Quasi-Ehebruch mit dem Tambourmajor sein. Woyzecks „ich will drüber nachdenke“ klingt wie eine Drohung. Wer an Selbstmord durch Erhängen denkt, fühlt den Strick um seinen Hals.
Die Welt in fünf Buchstaben. Arbeitsaufträge
Die Schlüsselszene, in der die entscheidende Information fällt, findet sich fast unverändert sowohl im ersten als auch im vierten Handschriftenentwurf. Sie belegt die dramaturgische Autonomie des Mordkomplexes in Bezug auf die später hinzukommenden kabarettistisch interessanten aber dramaturgisch bedeutungslosen Nebenfiguren. Sie erklärt, warum in der Urfassung Louis seine Margreth nicht mehr küssen darf, sondern nur noch erstechen, sie erklärt, warum „das Kind“ Marie einen „Stich ins Herz“ gibt, wie die Mutter in höchster Verzweiflung antizipiert und sie bringt Woyzecks Nachdenken über den furchtbaren „Gedankenstrich zwischen ja und wieder ja“ auf den Punkt. Sie schließt sich an die „Wirtshaus“szene an, die oben sowohl im Original als auch in der „Inhaltsangabe“ der Schroedel-Version nachzulesen ist. Borgards unterläuft in der Zusammenfassung der 13. Szene der Lese- und Bühnenfassung ein textentstellender, das ganze Dilemma inkompetenten Lesens bloßstellender Fehler, der Gelegenheit gibt, die Schüler Lehrer spielen zu lassen:
Woyzeck ist allein draußen auf dem Feld. Dort wird er von akustischen Halluzinationen bedrängt. Er hört Musik. Und er hört Stimmen, die ihn unentwegt dazu auffordern, Marie zu ermorden. (35)
Die 13. Szene der Lese- und Bühnenfassung (H4,12) liest sich wie folgt:
WOYZECK: Immer zu! Immer zu! Still, Musik! (Reckt sich gegen den Boden) Ha, was sagt ihr? Lauter, lauter – stich, stich die Zickwolfin tot? Stich, stich die Zickwolfin tot. Soll ich? Muss ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich tot, tot.
Arbeitsaufträge: 1. Benennen Sie die inhaltsrelevante Änderung, die die Schroedel-Zusammenfassung vornimmt und verwenden Sie dazu den Begriff „Leerstelle“ 2. Vergleichen Sie den Text der Stimme aus dem Boden mit der Wirtshausszene. 3. Vergleichen Sie die die Szene der Hauptfassung mit der 6. Szene des ersten Handschriftenentwurfs. 4. Interpretieren Sie die Worte: „Soll ich? Muss ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch?“ 5. Eine analoge Leerstelle findet sich auch in der Urfassung H1. Stellen Sie eine Hypothese für den dramaturgischen Grund dieser Leerstelle auf. 6. Vergleichen Sie die Namen, die die Stimme aus dem Boden im ersten und vierten Handschriftenentwurf nennt im Hinblick auf a) Gemeinsamkeiten und b) Unterschiede. 7. Diskutieren Sie die Namensänderung im Hinblick auf das in den Jahrmarktsszenen dominante Motiv der „Viehigkeit“. 8. Diskutieren Sie die Informationen durch die Stimme aus dem Boden im Hinblick auf Woyzecks Bedürfnis über den Gedankenstrich zwischen dem „Ja und Ja“ oder „nein“ nachzudenken.
Lösung: 1. Die Stimme aus dem Boden nennt nicht den Namen „Marie“, sondern „Zickwolfin“. In der Figurenbezeichnung fehlt der Familienname, der Text spricht nur von „Marie“ und enthält insofern eine Leerstelle; 2. Die Stimme aus dem Boden spiegelt das „Immer zu, immer zu“. Die wiederholte Aufforderung „stich tot“ nimmt das Motiv rhythmisch auf. 3. Der ursprüngliche Familienname des weiblichen Opfers lautet „Woyzecke“. 4. Woyzeck vergewissert sich, ob er sich nicht täuscht. Er registriert die Ungeheuerlichkeit der Aufforderung. 5. Der Autor vermeidet, dass Täter und Opfer den gleichen Familiennamen führen. 6. „Woyzeck“ und „Zickwolf“ haben fünf gemeinsame Buchstaben und drei verschiedene. In Bezug auf die Silbenfolge Woy/Wolf und Zeck/Zick findet eine Umstellung (Inversion) statt. 7. Der Name „Zickwolf“ stellt eine (biologisch abartige) Paarung von Zicke und Wolf dar und assoziiert den Namen Woyzeck mit Vieh. 8. Die Frage, ob „Zickwolf“ und „Woyzeck“ identisch sind, also nur auf einer affekthaften Verzerrung beruhen, lässt sich nicht beantworten, d.h. auch nicht verneinen. Im Falle von „ja“ und „ja“ (Woyzeck = Zickwolf) bedeutet der Gedankenstich das Bewusstsein einer Verwandtschaft ersten Grades von Täter und Opfer und damit auch die Identität von Sohn und Vater. Damit einher ginge erstens ein Identitätsverlust, der an eine Identitätsaufhebung grenzt, zweitens zumindest eine Teilschuld.
In einem weiteren Schritt wäre in Form von Arbeitsaufträgen das Gefundene zu bestätigen und zu sichern. 9. Vergleichen Sie die Szenen 16 (Woyzeck kauft ein Messer) und 17 (Marie blättert für sich in der Bibel) im Hinblick auf die Worte „Messer“ und „Stich“ als Elemente der „metaphorischen Verklammerung“, und der Feststellung von Volker Klotz (Geschlossene und offene Form im Drama, 106), dass im Verlauf der Handlung die Bildkette sich aus der Sphäre des Metaphorischen befreit und zur Konkretion, zur Faktizität drängt. 10. Inwiefern widerspricht der Titel der Szene 17 und der Nebentext : Marie (allein, blättert in der Bibel) a) der Szenenhandlung und b) welche Leseanweisung könnte daraus im Hinblick auf die Figurenrede Maries geschlossen werden. 10. Vergleichen Sie die Szenen 17 und 18 (Woyzeck verfügt über seine Sachen). 11. Verfolgen Sie das Element „Sonne“ der metaphorischen Verklammerung in den Szenen 12 (Wirtshaus), 17 und 18. 12. Vergleichen sie die Figurenrede des Narren in Szene 17 mit der Szene 27. Verwenden Sie den Begriff „Antizipation“. Inwiefern kann man die Figurenrede nun nicht mehr als „dunkel“ bezeichnen?
Lösung: 9. Woyzeck kauft sich ein Messer. Da wir ihn in der ersten Szene beim Stöcke schneiden sehen, müsste er sich keine neue Tatwaffe besorgen. Der Messerkauf aktualisiert das Faktische im Zusammenhang der metaphorischen Verklammerung. Wenn Marie ausruft: „Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz“ steht der metaphorischen Bedeutung des „Stichs“ das Faktische des soeben erstanden Messers entgegen. Im Zusammenhang mit der Stimme aus dem Boden, die das Publikum in Szene 13 hört, die Woyzeck auffordert, die Zickwolfin zu erstechen erhält der wörtlich verstandene ‚Stich‘ eine überragende Bedeutung. 10. In der Szene drängt sich das Kind an entscheidender Stelle an die Mutter, um den „Stich“ zunächst als Metapher erscheinen zu lassen. Wenn die Mutter, wie in dem Nebentext gefordert, alleine auf der Bühne wäre, müsste der „Stich“ wörtlich verstanden werden. Der Nebentext fordert daher das wörtliche Verständnis, die „Faktizität“ des Stichs, der ja auch erst Maries Verzweiflung, ihre Schuld und den Unterschied ihrer Verfehlung zum Ehebruch erklären kann. 10. Marie bezeichnet sich als „Sonne“, in ihrer Brust ist alles „tot“. Woyzecks Mutter fühlt nichts außer der Sonne. Beide werden mit der Bibel assoziiert. Eigentlich müsste Woyzeck sich auf Marie beziehen. Wenn er das hier tut, ist Marie seine Mutter. 11. In Szene 12 will Woyzeck, dass Gott die Sonne ausbläst, das Weib, Marie, ist heiß. Marie identifiziert sich selbst mit der „Sonne“ an die sich das Kind drängt. Auch Woyzeck drängt sich in übertragenem Sinne an Marie. Und er assoziiert die Emotionalität seine Mutter mit der Sonne. 12. Wenn man den „Stich“ in Maries Figurenrede wörtlich versteht, dann antizipiert sie das, was die Stimme aus dem Boden von Woyzeck fordert. Die Figurenrede des Narren enthält den Begriff „morgen“, er antizipiert in offener Rede so, als ob er auf Marie reagiert, ihre Antizipation aufnimmt: „Das Kind wird mir einen Stich ins Herz geben.“ In Szene 27 hält der Idiot das Kind vor sich auf dem Schoß, in Szene 17 sagt er „morgen hol‘ ich der Frau Königin ihr Kind“. Szene 27 realisiert die Antizipation von Szene 17. Die Figurenrede „Blutwurst sagt: komm Leberwurst“ bezieht sich auf Woyzecks Versuch, das Kind zu liebkosen. „Blutwurst“ und „Leberwurst“ stehen für Woyzeck und das Kind Christian. Insofern sieht der Narr, der mit dem Idioten zu identifizieren ist, voraus, was sich ereignen wird und wäre korrekter als hellsichtig zu bezeichnen statt seine Figurenrede als dunkle Rede.
13. Überprüfen Sie die gefundenen Zusammenhänge anhand der Szene 10 (Der Hof des Professors/Doktors) hinsichtlich a) dem Komplex Pädosexualität, b) dem Begriff ‚Fallhöhe‘ der klassischen Tragödie, und c) hinsichtlich der Bemerkung der Schroedel-Interpretation, dass Woyzeck infolge der Erbsendiät Haarausfall habe. (34)
Lösung: 13. a) Der Professor/Doktor hält auf dem Dach voyeuristisch Ausschau nach Mädchen aus der Mädchenpension, die, wie Davids Bathseba, nackt sind. b) Er wirft eine Katze zum Dachfenster hinaus und macht dabei eine Anspielung auf Woyzecks Zärtlichkeit zu seiner Großmutter. Der Begriff „Bestie“ wird vom Tambourmajor, paraphrasiert als „wild Tier“, auf Marie bezogen. Woyzeck fängt an zu zittern, der Text postuliert also Kausalität zwischen dem ‚Fall‘ der Bestie (Großmutter, später auch Mutter), Zärtlichkeit und Woyzeck. Büchner ironisiert die Fallhöhe der klassischen Tragödie, gibt ihr gleichzeitig aber einen ernsten Hintergrund. Die Großmutter (Mutter) fällt tief und in Woyzecks Arme. c) Woyzeck wird seitens des Doktors mit dem Animalischen (Viehigkeit) assoziiert und als Kausalität mit häufiger Wahrscheinlichkeit weibliche Erziehung und mütterliches Haare-Ausreißen aus Zärtlichkeit genannt. Im Kontext von Animalität (Katzen) gehört der Nackenbiss (Zärtlichkeit), dem Haare zum Opfer fallen, zum Geschlechtsakt. Eindeutig wird das „Dünner-Werden“ der Haare auf die vorherige Anspielung bezogen. Die Erwähnung der Erbsen („Meine Herren, sie können dafür was anders sehen“) macht ein zweites Thema auf, das der anstößigen Thematik (tabuisierte inzestuöse Sexualität als ‚Falltiefe‘) ein vordergründiges Feigenblatt verleiht.
Fazit
Kommen wir noch einmal zurück auf Louisels Bemerkung, sie hätte lieber ein Messer in den Leib als Woyzecks Hand auf ihrer, sowie auf Louis‘ Einsicht in die Unmöglichkeit, Margreth noch einmal zu ‚küssen“. Beide, sowohl Louisel als auch Louis reflektieren, wenn auch verdeckt, die Realität des Inzesttabus und gleichzeitig die unter Wahrung des Tabus einzig mögliche Realisierung des Inzests und seiner (wohlgemerkt auf der Bühne und daher symbolisch) übermächtigen Attraktion: in Form des Messers. Psychologisch gesehen bedeutet das den Kurzschluss aus absoluter Vereinigung und absoluter Befreiung. Der literarische Stellenwert und die empirische Präsenz des Dramas auf den Spielplänen der Theater dürfte nicht zuletzt auch darauf beruhen, dass Georg Büchner hier (wie mehr oder weniger auch in seinen anderen literarischen Werken) Material, mehr oder weniger aus dem Unbewussten, wider alle Konventionen nach allgemein gültigen selbstgeschaffenen Regeln gestaltet, Material, das sich ganz zweifellos als authentisch zu erkennen gibt. Daraus ist freilich kein linearer autobiografischer Zusammenhang abzuleiten, selbiger aber auch nicht ausgeschlossen. Wichtiger und im Hinblick auf (mehrdimensionale) Interpretation des Dramenfragments unabdingbar ist der sich daraus ergebende Stellenwert des im Dramenfragment präsenten Prätextes Bibel. Nicht im Sinne dogmatischer Vorgaben analog zu schlechter Literaturdidaktik, sondern im Sinne von Interpretation unter der Voraussetzung und mit dem Ziel der Transzendenzoffenheit.
Christian Milz, FRANKFURT AM MAIN, am 15.10.2024