"Extravaganzen und Überspanntheiten"
In der neuen Ausgabe (April 2016) des Georg Büchner Jahrbuchs 13 (2013 - 2015) lässt sich der Büchner-Biograf Jan-Christoph Hauschild zu einigen Extravaganzen und Überspanntheiten in der Büchnerdeutung aus.
Wer in Anbetracht des Titels eine Auseinandersetzung mit neuen Ansätzen in der Büchner-Forschung erwartet, wird allerdings schwer enttäuscht. Hauschild maßregelt in erster Linie alte Kamellen der Büchner-Interpretation: Thomas Michael Mayers These vom "Frühkommunisten Büchner" (1979), Henri Poschmanns Charakterisierung Büchners als "Anatom," (1964) und Reinhold Grimms Identifikation des Revolutionärs Büchner mit dem "Erotiker" (1979). Nur ganz am Rande macht Hauschild auch neuere "Extravaganzen" dingfest, nämlich Martin Mosebachs ("Don Quixote der Gegenaufklärung") Einordnung Büchners als Apologeten des Massenmordes (2007) und Ariane Martins Entdeckung einer verdeckt-entblößten "Erektion" in Leonce und Lena (2012).
Hauschilds Betriebsblindheit deutet sich freilich schon im Titel an, der bereits mit dem erhobenen Zeigefinger herumfuchtelt. Wer "Extravaganzen und Überspanntheiten" in der Literaturwahrnehmung geißelt, der erklärt implizit seine eigene beschränkte Perspektive zum Maß aller Dinge. Irgendwie scheint das zur Berufskrankheit der Büchner-Forschung zu gehören, der schon die Minimalvoraussetzung zu einer fundierten Kontroverse fehlt, nämlich die kompetente und möglichst vollständige Registrierung der Daten und ihrer Struktur. Anschließend kann man selbige sich ja um die Ohren hauen. In der Büchner-Rezeption geht es anders herum. Da werden die eigenen Prämissen absolut gesetzt und auf Teufel-komm-raus behauptet. So etwas kennt man ansonsten eher aus dem Totalitarismus.
Letztendlich kommt aber niemand darum herum, seine Karten aufzudecken und so legt schließlich auch Hauschild seine freimütig wenngleich mehr oder weniger unbewusst auf den Tisch: Auf Seite 290 bekennt er: "Das Erotikthema spielt in der Büchner-Interpretation heutzutage kaum noch eine Rolle; ganz zurückdrängen läßt es sich aber auch nicht ...", um dann besagte von Ariane Martin entdeckte "Erektion" zu besprechen. "Ganz zurückdrängen" will Hauschild das Erotikthema bei Büchner also, damit outet er sich als Dogmatiker und Hüter einer Ideologie (wenngleich, wie man seinen Ausführungen zwangsläufig entnehmen muss, mehr oder weniger seiner persönlichen). Er sieht in Georg Büchner die "einzigartige Synthese" eines wissenschaftlichen ergebnisoffenen Forschungs- und Untersuchungsdranges, des produktiven Kunstsinns und der ergreifenden Solidarität des citoyen. Das klingt schon sehr nach Friede-Freude-Eierkuchen, wo erhebliche innere wie äußere Spannungen sehr viel wahrscheinlicher sind. Aber mag dem sein wie ihm wolle, vom "Ergebnisoffenen" könnte Hauschild sich eine Scheibe abschneiden.